Vom bedauerlichen Scheitern der

Umerziehung halbstarker Knirpse

 

 

1974. Irgendwo in Ostdeutschland.

 

Da steht er, unser vormilitärischer Ausbilder, Herr Schliff: ein Bild 

von einem Zwerg. Kleinwüchsig. Aber ´ne Riesenklappe. Um die

vierzig Jahre. Dünnes, halblanges Haar, blond, oben offen. Ein Arsch

mit Ohren, sozusagen. Er hat es schon seit langem darauf abgesehen,

uns wie Tiere durchs Gelände zu scheuchen. Witzigerweise heißt der 

Schliff auch noch so, wie er heißt. Nur ist uns bei dem Namen nicht

nach Lachen zu Mute – nicht mal nach dem kleinsten, schiefen Grin-

sen.

Vormilitärische Ausbildung ist hier im Heim Pflicht für Jungen und 

Mädchen ab zwölf Jahre aufwärts. Der größte Blödsinn überhaupt, 

aber aus dem Mund von Herrn Schliff klingt das anders: > Zu einer 

guten Umerziehung gehört auch, daß Ihr geistig und körperlich fit 

für spätere Aufgaben seid! Ist doch auch nicht so schlimm, das biss-

chen marschieren. <

Während er das runterspult, grinst der Sadistenzwerg auch noch

wichtigtuerisch.

Nee, das bisschen marschieren kratzt uns überhaupt nicht...Uns 

kocht ja nur der Schweiss am Allerwertesten und sonstwo. Reicht

immerhin aus, um die Unterhosen nach der Tortour auszuwringen.

Daß der Schliff selbst nur mäßig hinter der Schweineverordnung

´´von ganz oben´´ steht, wussten wir natürlich. Aber er war nun

mal der 'Schweinetreiber', der uns jede Woche bis zum Umfallen

durch die Prärie hetzte.

Also: irgendwie loswerden, den Vogel, der nach Befehl von oben

pfeift.

Welcher Vor-Sänger danach kommt, das sehen wir dann.

 

Heute ist es also wieder soweit: Jagd auf den unsichtbaren Feind.

Erstmal dürfen wir zur allgemeinen Erheiterung ein wenig mit 

Luftbüchsen herumballern. Wer die zehn, also das Schwarze in der 

Mitte der Zielscheiben trifft, darf hierbleiben – muß nicht mitmar-

schieren - verspricht der Schleifer - so unser Spitzname für ihn.

Keiner trifft die Mitte und Herr Schliff grinst sich eins. > Na denn 

Leute, ab mit euch in die Uniformen! <

Ja, die Uniformen...Ausrangierte Zirkuszelte waren das. Nirgend-

wo ein Arsch in der Hose, an den Beinen viel zu lang. Und die Jac-

ken hängen wie nasse Säcke im Kreuz.

Die Mädchen sahen noch schriller in ihren Uniformen aus. Da war

nichts mehr zu sehen von Arsch und von Tittchen. Von wegen 

Schneewittchen.

 

Unsere 'Kampftruppe' war etwa vierzig Menneken stark – mal mehr,

mal weniger - je nach vorherigem, echten Verschleiß – und Ausfall-

meldungen. 

Zehn, elf  Mädchen liefen immer mit. Der Vollständigkeit halber 

folgte das obligatorische Abzählen von rechts nach links, also vom

kleinsten Wicht bis zum längsten Lulatsch. Anschließend wurde 

der Kampfauftrag (der immer derselbe war) von Herrn Schliff aus-

gegeben. Gefechtsmarsch bis zur 'feindlichen Linie'. Das hieß: an-

pirschen, robben im freien Gelände und Erstürmung der feindlichen 

Stellung.

> Scheiße, < maulte jemand im hinteren Glied.

> Das ist nicht Scheiße, sondern das heißt Überleben im Ernstfall!, <

rief der Schleifer uns aufmunternd zu.

Dann befahl er auch schon: links um! Und: im Gleichschritt marsch!

Der Gefechtsmarsch übers flache Hinterland begann. Und der zog 

sich und zog sich. Zehn, zwanzig, dreißig Kilometer...

So ging das dann über Mammutstrecken, bei denen sich selbst ein 

Rennpferd lingelang in den Sand schmeißen würde. Fing es erst an, 

dass uns Schweiss über Stirn in den Nacken, den Rücken runter, bis 

in die Stiefel lief - dann wussten wir, wie beschissen das Soldatenle-

ben unter erschwerten Bedingungen sein konnte. Jacken, Hosen und 

Stiefel durften während des Marsches nicht abgelegt werden. Selbst 

dann nicht, wenn der Planet heiß wie ein Backofen ist, oder zur Ab-

wechslung: arschkalt. Sommer, wie Winter: marschieren, marschie-

ren.

Wir Jungs nahmen die Mädchen in die Mitte, und zogen sie mit, so 

gut es eben ging.

Lagen 20 oder 30 Kilometer hinter uns, und das Heim in Sichtweite

endlich vor uns, dann mußte jemand ein lustiges Lied anstimmen,

weil wir ja angeblich noch so fröhlich und munter sind. Schwach-

sinn, dachten wir uns, aber wir leierten unsere Lieder artig herunter.

Früher, als wir noch kleiner und eher unschuldig waren, da war das 

Leben hier, im Kinderheim noch in Ordnung. Doch jetzt fiel an 

zwei Tagen in der Woche die Rumtoberei aus. Stattdessen wurde 

nun marschiert und gejapst, bis die Beine gerädert vor sich hineier-

ten.

 

Es mußte endlich was passieren. Wir halfen dem Ende der Quäle-

reien etwas auf die Sprünge. Den Verlauf weiterer, angenehmerer

Überraschungen konnten wir dann getrost anderen überlassen. Not-

gedrungen wurden wir zu Anscheißern. Nur dieses eine Mal, und 

für eine gerechte Sache, fanden wir. Natürlich auch unserer geschun-

denen Füße wegen, die vor lauter Blasen zu unförmigen Monster-

Figuren mit Zehen anwuchsen, die kaum noch in irgendwelche 

Schuhe passten.

Schliff, der Ausbilder, war ein immergeiler Mädchenjäger. Und da-

ran sollte er jetzt untergehen! Gebunden, oder mit fester Freundin 

beschenkt, war der Schleifer nicht. Welche vernünftige Frau nimmt 

auch schon solch einen herrschsüchtigen Lackaffen. King Charly,

in Miniausfertigung und Tarnanzug: den will doch keiner. Trotzdem:

er ist ein Weiberheld. Und das nicht zu knapp. Soll er. Ist ja kein 

Verbrechen. Nur: er hat es eben auf die Heimmädchen abgesehen.

Und die sind ja wohl noch ein bisschen zu grün und viel zu jung.

Der Schleifer bewohnt im Schloß, oben, nur einen Stock unter den

Mädchenzimmern, seinen Bumsschuppen. Mansardenbude mit

Schrägwänden. Nur eine knarrende Holztreppe trennt ihn von den 

Heimmädels. Ja, und wenn nachts alles schläft, da oben, tätschelt 

der Schliffheini an irgendeiner dummen Gans herum, die das mit

sich machen lässt. Er tarnt seine Fummeleien ziemlich gewieft: 

flunkert anderen Erziehern vor, er hätte ein wichtiges, erzieheri-

sches Gespräch mit der einen oder anderen Heranwachsenden zu 

führen.

Wer´s glaubt. Gefummel als persönliche Erziehungsmaßnahme:

sie im Schlüpfer und er in Kampfmontour, oder blank und ohne

schlimme Absichten - alles ganz harmlos. Schon klar.

Auf Kerstin, die mit den größten Brüsten im Heim, war er schon

immer scharf. Aber meine Schulnachbarin ließ ihn kalt abblitzen. 

Die hatte was im Kopf; war nicht so beknackt wie manche andere

dumme Hühner, die folgsam in sein Zimmer huschten. Sie kamen

in Neugier, in Folgsamkeit, Naivität – ach ja: wegen der nötigen

Erziehung natürlich auch - was auch immer.

Detlef, mein Kumpel im Heim, wusste seit langem davon. Und er 

fand, daß die Zeit reif war, dem Schleifer vom Dienst endlich eins 

auszuwischen.

 

An jenem Abend, zwei Tage vor Heiligabend, gegen 22 Uhr, klag-

te Detlef bei Herrn Rosinius über rasende Kopfschmerzen. > Jun-

ge, wo soll ich jetzt ´ne Kopfschmerztablette für dich hernehmen?, <

murrte Herr Rosinius.

> Herr Schliff hat doch welche im Verbandsschrank. Hat er mir 

neulich selbst mal gezeigt, < antwortete Detlef, wie eingeübt.

> Also gut Junge, warte hier, ich geh' mal rüber ins Schloß und 

klopf mal bei Herrn Schliff an. Hoffentlich schläft er nicht schon. <

> Glaub´ ich nicht, < ließ Detlef allwissend durchblicken. Es brennt 

ja noch Licht in seinem Zimmer! <

Detlef fletzte sich derweil gemütlich zurückgelehnt im Polsterstuhl

unseres Erziehers. Und grinste sich eins, als Herr Rosinius loszoc-

kelte, in Richtung Schloß.

 

Zehn Minuten später kam er zurück, ziemlich verdattert und auch 

ziemlich viel blass im Gesicht. Die Tablette für Detlefs ach so dröh-

nenden Kopf hatte er völlig vergessen. Dauernd den Kopf schüttelnd 

brabbelte nur vor sich hin...

> Schwer enttäuscht... Das arme Mädel...Und das in unserem Haus...

Meldung ist unvermeidlich...Dafür muß er sich verantworten. <

Detlef wusste nur zu gut, daß der Schleifer in flagranti erwischt wor-

den war.

> Leg dich wieder ins Bett, Junge, ich bring' dir deine Tablette spä-

ter, < sagte Herr Rosinius. > Da ist noch einiges zu klären...<

 

Detlef ging langsam, dann schneller, schließlich rannte er und stürm-

te ins Jungenzimmer, um mir die frohe Botschaft zu überbringen. Er 

führte einen Freudentanz auf – hüpfte, wirbelte im Kreis herum; sang 

sogar.

> Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, jetzt ham wir ihm eins reinge-

haun. Nun hat die Schleiferei ein End', denn unser Schliff hat nicht 

gepennt...< Undsoweiter. 

Tannenbaum? Da war doch was...Ach ja, morgen ist Weihnachten. 

Schlechtes Timing, wenn man ausgerechnet kurz vor Heiligabend in 

den sauren Appel beissen muß, wie der Schleifer.

Detlef jodelte noch ein paar wunderliche Freudenlieder vor sich hin, 

bis er endlich tiefer ins Bettzeug rutschte, um die Schadenfreude in 

leiserem Lachen ausdudeln zu lassen.

> Was glaubste, wen der Schleifer da drüben bei sich auf der Bude 

hatte?, < frage ich ihn.

> Bestimmt die doofe Liesbeth aus der Achten. <

> Tipp ich auch drauf, < erwidere ich.

Detlef zog wieder eine seiner filterlosen Zigaretten aus dem Kopfkis-

senbezug, die er immer rauskramt, wenn es was zu feiern, oder zu 

amüsieren gibt. Salem, für einssechzig die Schachtel.

> Willste? <

> Nee, danke. Sind mir zu stark, die Lungentorpedos. <

> Na, denn nicht, < nuschelte Detlef. > Schlaf man gut. <

> Aber ganz bestimmt. Gleichfalls, Kumpel. <

Ich wühle mich ins Bettzeug und lasse die Augen zufallen, um was 

Schönes zu träumen.

 

Am nächsten Tag, es war der 24. Dezember...Herrschte ein ziemli-

ches Chaos. Herr Rosinius wurde zur Heimleiterin beordert, um Be-

richt wegen der Vorkommnisse in der letzten Nacht abzuliefern.

Das tat er - und bald war es herum, welches der Mädchen mit unse-

rem GST-Ausbilder vertraulichere Erziehungsgespräche führte.

Wie schon erahnt: es war die Liesbeth. Sie heulte fürchterlich, als 

auch sie aus dem Zimmer der Heimleiterin kam, wo sie sicherlich 

ganz schön zusammengeschissen worden war. 

Es sickerten sogar Einzelheiten der Schloss-Nacht durch. Einer der 

Jungs hatte an der Tür gelauscht, während Liesbeth drinnen vor 

lauter Geweine nur langsam mit ihrer Sicht fummeliger Begeben-

heiten voran kam.

Herr Rosinius hatte demzufolge zu besagter Zeit offenbar schon 

eindeutige Quietschtöne von Liesbeth wahrgenommen, ehe er ü-

berhaupt beim GST-Ausbilder anklopfte. So riss er also die Tür 

einfach auf, und erblickte, was da Liderliches vor sich ging...

Das Mädel pudelnackt und breitbeinig an einen Schrank gelehnt -

verdreht die Augen. Und davor mit ausgefahrener Gefechtslatte...

Beide müssen ziemlich erschrocken gewesen sein, So schnell war 

die Tür zum Lotterzimmer wohl noch nie unaufgefordert aufgeris-

sen worden.

 

Alles leugnen half nichts. Und so kam, was kommen mußte. Die 

dumme Liesbeth wurde noch am gleichen Tag weggebracht, in 

ein anderes Kinderheim, das ihr nicht mehr soviel Freiheit wie un-

ser Heim bot. Sie tat mir schon irgendwie leid, als sie uns weinend

aus den Augen entschwand - in ein Auto, am Schloß, verfrachtet

und weggebracht wurde.

Für Herrn Schliff, den GST-Ausbilder, kam es knüppeldick. Er 

wurde gegen Mittag von einem grünen Wagen der Polente abge-

holt und weggefahren.

 

Drei Monate später wurde er wegen Missbrauch von minderjäh-

rigen Schutzbefohlenen (in Amtsdeutsch) angeklagt und zu drei

Jahren Knast verdonnert. Strafverschärfend wirkte sich das Urteil

in sofern für ihn aus, daß er die drei Jahre in einem Zuchthaus mit

ganz üblem Ruf totschlagen mußte, dessen Ortsname allein schon

das Fürchten lehrte. Außerdem durfte er nie wieder als Erzieher

oder Ähnliches arbeiten. Er bekam also sozusagen die volle Pac-

kung und Härte des Gesetzes zu spüren.

 

Im Nachhinein dachten wir dann auch: ganz schön heftig. Viel-

leicht auch zu heftig, was der Schleifer da an Strafe aufgehalst be-

kam. Uns hätte es vollauf gereicht, wenn er ein – für allemal aus 

dem Heimleben verschwunden wär, um woanders kleine und grö-

ßere Kinder zu schinden, oder: anderswo besser auch nicht – ach, 

was weiß denn ich.

Nun hatten jedenfalls die eisernen Hände von Staatsanwalt und 

Richter die alleinige Macht über ihn. Und die wollten nun mal, 

dass der Schleifer ins Kittchen wandert. Wir konnten und wollten 

letztendlich auch garnichts dagegen tun. Der Schleifer war ein 

Arsch, und wir waren die Geschundenen – basta. 

 

So wurde es auch um dieses Kapitel in wenigen Tagen wieder 

still. Die freien Nachmittage gehörten nun wieder ganz uns. Kei-

ne Gewaltmärsche mehr, keine Blasen mehr an den Füßen und ein 

neuer vormilitärischer Ausbilder wurde so schnell auch nicht ge-

funden. Vielleicht wollte man hier auch keinen mehr. Der eine 

hatte ja auch schon genug Murks angerichtet. Und das ausgerech-

net an jenem Heiligabend, neulich.

Schöne Bescherung.

 

 

© Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

  unbekannter Maler

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