Die Unsichtbaren

 

 

Die Bahnhofsuhr knarrte im Rost.

Pauline zog die Decke enger um sich. Verbarg auch ihr Gesicht

im muffigen Filz. Nur ihr struppiges Haar ragte am oberen Dec-

kenende hervor.

Sie schlief ein. Nicht lange. Etwas rüttelte die Bank, auf der sie

ihren Schlafplatz in Besitz genommen hatte. 

Sie öffnete die müden Augen. Ein Junge, etwa acht, neun Jahre,

glotzte sie an. Hungrig, mit Lumpen am hageren Leib, dunkel-

haarig, dunkelhäutig. Noch dunkler, als die anbrechende Nacht,

hier draußen.

Der Knirps lächelte schief, rutschte näher und lehnte seinen Kopf

an ihre in Filz gewickelte Schulter. Suchte leicht zitternd Wärme

bei ihr.

> Verschwinde!, < sagte sie eher wenig streng. > Hau ab, nach

Hause! Ich komm selbst gerade so zurecht, kann dich nicht auch

noch mit durchfüttern! <

Er lächelte weiter - verstand offenbar kein einziges Wort - und 

schlief fast augenblicklich, an ihre Schulter gelehnt, ein.

Die verblüffte, alte Pauline war drauf und dran, ihn mit einem

kräftigen Schubser ganz von der Bank zu befördern. Ließ es 

dann aber. Sie schnaufte nur ein paarmal tief durch und verdreh-

te die Augen, ehe auch sie dieselben schloß.

 

In der Frühe kam der Mann vom Stellwerk. Brachte ihr heißen

Kaffee im Pappbecher und zwei belegte Brötchen. Pauline streck-

te sich etwas. Der Junge erwachte jäh, rutschte abwärts, auf ihr ei-

nes, taube Bein. Sein Lächeln aber war immer noch da.

> Der ist ganz schön anhänglich, < beschwerte sie sich bei dem

Mann mit dem Frühstück und nahm es ihm, dankbar nickend, ab.

> Hat wohl keine Eltern, < nuschelte der Mann. Er bekratzte sich

den Nacken. > Kann eigentlich nicht sein. Jeder hat Eltern. Oder: 

fast jeder. Ich tippe mal, dass er von Zuhause abgehaun ist. <

> Ist mir egal, Bernard, < schmatzte und sprach sie gleichzeitig.

> Kannst ihn haben. Ich schenk ihn dir. <

Nun lächelte auch der Mann.

> Du wirst ihn schon noch adoptieren, wie ich dich kenn´. <

> Ha! < rief sie eher scheinbar empört. > Nie und nimmer! <

 

Sie winkte dem Mann noch nach, bis er zwischen den Gleisen 

verschwand, um zu tun, was immer für ihn zu tun ist.

Sie teilte die zwei Brötchen ungern auf; reichte dem Jungen dann

doch eins herüber, weil der sie schon eine ganze Weile lang herz-

zerfetzend anglotzte.

 

Bei Sonnenaufgang zogen sie davon. Vorneweg die humpelnde, 

alte Frau - und dicht dahinter der Bursche, der von Irgendwoher 

kam und keins ihrer Worte verstand.

Am Marktplatz im Stadtzentrum sang sie schöne Lieder. Sang ein-

fach. Immer drei, vier Lieder, mit kurzer Pause zum Verschnaufen.

Sie sang mit brüchiger Stimme; eher leise, und vielleicht auch des-

halb auf unbestimmte Art berührend.

Der Junge sammelte Kleingeld von Leuten ein, ohne daß Pauline

ihn dazu auffordern mußte. Also kannte er das Leben auf der Stra-

ße, soviel ist schon mal sicher, dachte sie sich.

 

                                                          *

 

Tage und Wochen gingen dahin. Am Morgen liefen sie stadteinwärts; 

Pauline sang alle Lieder ihres Repertoirs, der Junge sammelte nicht

üppige Spenden im Kaffeepappbecher ein. Mittags aßen sie gemein-

sam aus der großen Schüssel in einer Wärmstube; abends noch beleg-

tes Baguette mit zwei Gläschen Pernot für Pauline und Milch für den

schmächtigen Vagabunden, im Stehimbiss.

Dann wurde es langsam Zeit, die Schlafbank am Bahnsteig aufzusu-

chen. Der Junge wich nie mehr als zwei, drei Meter von ihr. Wie ei-

ne Klette, redete sie sich mehr als einmal ein und kniff sich dann ge-

danklich irgendwo da, wo es nicht sonderlich wehtut.

 

Es wurde nicht nur Zeit, wie bisher, zu wärmeren Zeiten, den Schlaf-

platz am Bahnhof aufzusuchen: langsam wurde es auch unausweich-

lich, sich baldigst nach einer geschützteren Bleibe umzusehen. Die 

Tage wurden schon kurz und kürzer. Der Winter stand vor der Türe

und klopfte schon an.

Pauline dachte unentwegt nach; fiel auch immer öfter in Kummer,

je mehr die kühleren Tage und Nächte eine Entscheidung forderten.

Nein, in der Stadt würden sie keinesfalls sicher sein: zu ruppig ging 

es dort zu. Die Bettler unter Brücken am Fluss und in der U-Bahn be-

stahlen sich oft gegenseitig, nahmen einander auch noch die letzten 

Habseligkeiten weg. Sie hat es selbst schon erfahren müssen - war zu 

schwach, um sich gegen Stärkere durchzusetzen.

 

Sie verzweifelte vollends - und die Nächte da draußen, am Bahnsteig, 

wurden unerbittlich kälter. Hier gab es zwar einen Bahnwärter, der 

auch nachts über Hab und Gut der Leute wachte. Aber das nützte ih-

nen nun rein garnichts mehr. Vor den rauhen Nächten konnte der sie 

auch nicht mehr schützen.

 

 

Ein Abend im Dezember.

Es schneite. Wie verrückt schneite es schon seit Stunden. Still und ver-

lassen lag der Bahnhof da im Dämmern unter einer dicken, schwach-

glitzernden Schneedecke.

Abseits der sonst befahrenen Gleise: eines, das schon vor einem Jahr 

stillgelegt wurde. Darauf steht, mitten im Flockenwirbel, ein Güterwa-

gon - ohne Fenster - dafür drinnen mit viel Stroh, zwei neuere Matrat-

zen im geschützten Eck, mehrere Wolldecken, ein Tisch, zwei Stühle, 

ein Plastik-Klosett für die Notdurft. Zwei Menschen sind dort drinnen - 

nein, drei....Auf dem Tisch: Kerzen, etwas Nahrung, auch Obst, Milch, 

ein paar Bücher und eine ungeöffnete Flasche Pernot.

Bernard, der Mann vom Stellwerk, sieht zufrieden aus. Auch die alte

Frau und der schmächtige Junge lächeln im schwach flackernden Licht.

> Hier bleibt ihr erstmal eine Weile, < nuschelt der Mann; öffnet die

Flasche und blickt gleichzeitig in die Runde. > Kein Luxus, aber wer

braucht den schon. Genug Stroh ist da, und einen rollenden Boller-

Ofen bring´ ich morgen. <

Pauline nickt; wischt sich ein paar Tränen von den welken Wangen;

zieht den Jungen enger zu sich. Das Sprechen fällt ihr schwer. Ber-

nard setzt sich auf einen der Stühle.

> Lass mal. Ich weiß schon...<

Seine Miene hellt sich weiter auf.

> Eins deiner Lieder wär jetzt schön, wenn du schon nichts sagen

kannst. <

Sie und der Junge sinken hintenüber, ins Stroh. Und dann summt sie

zunächst nur. Fängt leise an, zu singen. Fast flüsterleise, als würde das

Lied schon zu Anfang sterben wollen. Dann wird sie sicherer, immer 

klarer werden die Töne: zauberklar und himmelschön - während drau-

ßen die Schneeflocken wie irre tanzen.

Bernard erhebt sich - deutet an, sie solle nur weitersingen. Er schließt

das eiserne Schiebetor auf Rollen, damit sich Wärme im Wagoninnern

ausbreiten kann. Daß auch kein Licht erlischt, in dieser Winternacht.

 

 

Erzählung: © Ralph Bruse

Foto: Richling; fotocommunity

     Christine

       Ralph

       Heike

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