Die Stille nach dem Sturm

   

Nordsee. 

Dreißig Seemeilen vor De Haan le Cog (Belgien). 

   

   

Ich will hier weg! 

Das ist nicht mehr mein Paradies. Es ist die Hölle! 

Seit Wochen rast das Meer um den Leuchtturm. Wir sitzen da 

und starren mutlos in die tobende Brandung. Das Versorgungs- 

schiff kommt nicht durch. Und die Vorräte werden knapp. 

Tage und Nächte sind sich gleich - duster und bedrohlich. 

Ich schreibe dies auf, weil ich spüre, daß alles noch schlimmer 

wird... 

Gestern fiel das Turmlicht aus. Daniel hat es wieder flottge- 

kriegt, jedoch nur für die Dauer der Nacht. Er versuchte es mit 

einer Leuchtboje. Das wütende Meer riss sie sofort in die Tiefe. 

Daniel schlug seine Fäuste auf Geröll blutig - schrie zuerst Gott 

und dann uns an. 

Schrei, soviel du willst, schnarrte der alte Louis. 

Die störrische Ruhe des Alten fachte Daniels Wut erst richtig 

an. Er sprang dem Alten blindlings an die Gurgel, warf ihn vom 

Stuhl und drosch wie verrückt auf ihn ein. Zum Glück ging Ul- 

ric, der Jüngste und Kräftigste der Drei, dazwischen - aber auch 

nur, weil ich ihn fast anflehte, vor Angst. Später zischte er mir 

zu, daß er viel Spaß gehabt hätte, den beiden Idioten bei der 

Schlägerei zuzusehen. 

   

Mir wurde klar, daß wir an einem Punkt waren, wo jeder des 

anderen Feind wird. Ich wollte nicht glauben, daß Unwetter 

und Abgeschiedenheit die Männer dermaßen zermürbten -

wollte nicht wahrhaben, daß roher Zorn in ihnen rumorte -

Zorn, der jeden Augenblick ins Unheil führen kann. 

Das Schlimmste aber ist, daß die Männer offenbar auf den 

Rest aller Vernunft pfeifen. Sie lassen ihren Wutausbrüchen 

immer öfter freien Lauf und vergessen - absichtlich, oder auch 

nicht - daß wir in der Einöde aufeinander angewiesen sind. 

Die Drei handeln frei nach dem Motto: fertig, zum Untergang! 

Gütiger Himmel, steh uns bei. Beende das Eingeschlossensein 

mit deinem Licht. Und bewahre uns vor weiterem Irrsinn..! 

   

   

2. 

Endlich ein brauchbares Funksignal..! In drei Tagen soll das 

Versorgungsschiff kommen. 

Daniel weiß jetzt, daß ich für immer auf's Festland zurück will. 

Er respektiert meine Entscheidung - möchte sich ebenfalls zur 

Hafenwache versetzen lassen. 

Ich weiß, daß er flunkert - daß er es an Land nicht lange aus- 

hält. Die See ist wahre Heimat für ihn - so kitschig das auch 

klingen mag. Ich liebe ihn so oder so. 

   

Draußen wird der Sturm stärker. 

Daniel und ich liegen eng beieinander, in der Koje, unter'm 

Turmdach. Von unten hören wir Geklirre und lallende Stim- 

men. Ulric und Louis trinken die letzten Weinflaschen leer. 

Morgen ist es vorbei mit dem tröstlichen Rausch. Dann müs- 

sen sie den hässlichen Tatsachen wieder ins Auge blicken. 

Hoffentlich kommt das Versorgungsschiff durch!, sage ich 

zum soundsovielten Mal und so laut ich kann. An irgendwas 

muß man doch glauben. 

Ja, antwortet Daniel. > Die schaffen es bestimmt! < 

Ich küsse ihn. Wir halten uns fest und zittern, trotz der Hitze 

auf der Haut. 

   

Lange nach Mitternacht kracht die Tür auf. 

Louis und Ulric. Sie torkeln, stürmen gröhlend ins Zimmer. 

Ich kann ausweichen. Daniel nicht. Er wacht nur noch einmal 

kurz auf - bevor Louis ihm die leere Weinflasche auf den Kopf 

schlägt; doch da ist es für jede Verteidigung zu spät. 

Eine große Blutpfütze entsteht. Ulric lacht viehisch, als er sie 

wahrnimmt. 

Starr vor Entsetzen will ich schreien - doch der Schrei erstickt 

in dumpfem Röcheln. 

Ulric taumelt vor, in meine Richtung, fliegt über seine eigenen 

Beine. Er kriecht weiter. Ich will weg, weg von ihm; doch ich 

stoße rückwärts an die Wand. Es geht nicht weiter. Ich springe 

über ihn - nicht weit genug - falle hin. Die Pranken fassen zu -

lassen mich nicht mehr los. 

Ich schreie endlich; schreie verzweifelt nach Daniel, nach Gott 

und sonstwen...! 

Daniel ist tot. Und hier gibt es keinen Gott. Hier nicht! Schläge 

gibt es; harte Schläge, bis der Schrei erstickt. Und dann eine 

Stimme. > Komm her und zier dich nicht so, Täubchen...< 

Draußen tobt der Sturm. 

   

Daniels Leiche werfen sie anderntags ins Meer. 

Warum werfen sie mich nicht gleich hinterher?! Ich werde sie 

hassen, nur noch hassen; und bei nächstbester Gelegenheit 

werde ich sie totschlagen! Winseln werden sie um ihr drecki- 

ges Leben! Und ich werde es auslöschen - das Gejammer; zer- 

treten, mit aller Kraft! War nicht mehr bei Sinnen, werde ich 

später sagen. War sturzbetrunken. Und dann diese Riesenwut! 

Das wird mein Richter verstehen. 

Tut mir nicht leid, daß die zwei Männer tot sind. Um Daniel 

tut’s mir leid - nicht um seine Mörder. 

Auch das wird der Richter verstehen. 

Und: ist mir egal, ob er, oder irgendjemand sonst mich ver- 

steht! Daniel ist nicht mehr hier. Ohne ihn bin ich nichts! 

   

   

Sie werfen mich erst später ins Meer. Vorher muß ich für sie 

kochen - natürlich unter strengster Beobachtung. 

Der alte Louis fixiert mich andauernd mit Blicken und denkt 

angestrengt nach. 

Bei Ulric dasselbe Gegaffe. Und wie das so ist, wenn zwei an 

das gleiche denken, denke ich mir: gut, daß beide hinter mir 

her sind. Verrückt - ich weiß, doch ich hab nur die eine Chan- 

ce, um zu überleben. 

   

Wenn sie satt sind, binden sie mich im Dachzimmer fest -

schließen zusätzlich Tür und Sperrbalken ab. Es dauert nicht 

lange, bis sie einzeln wiederkommen. Ulric zuerst, weil er sich 

das Recht des Stärkeren nimmt. Er löst die Stricke an den Fü- 

ßen, damit ich ‘im Eifer des Gefechts nicht an Blutstau krepie- 

re’, so sein lapidarer Kommentar - und bedient sich. 

Bevor sich der alte Louis bedient, darf ich mich waschen. 

   

   

3. 

Viel Zeit bleibt mir nicht. Morgen kommt das Versorgungs- 

schiff, und vorher werden sie mich ins Meer schmeißen - nichts 

ist sicherer, als das. Sie werden erzählen, daß ein schrecklicher 

Unfall passiert sei; daß der verdammte Sturm Daniel und mich

fortgerissen hat, als wir, beispielsweise, die Leuchtboje zu Was- 

ser ließen. Ausreden gibt es genug. Und niemand wird sie 

bezweifeln können. 

   

Als Ulric abermals ins Zimmer kommt, biete ich ihm dennoch 

zunächst ewiges Schweigen für mein Leben an. 

Er ist misstrauisch; springt auf. 

> Willst du mich verarschen?! Dein Hass ist viel zu groß. Des- 

halb wirst du uns irgendwann auch verpfeifen! Also, spar dir 

die Mühe, Täubchen. < 

Polternd verschwindet er. 

Louis ist diesbezüglich wesentlich vertrauensseliger. Er bleibt 

sitzen und horcht auf, als ich ihm schließlich gar verspreche - 

nach angemessener Trauerfrist - seine Frau zu werden. 

Er kratzt sich den Nacken. Sein Gestotter verrät Unsicherheit. 

> Lllass mich drüber nananachdenken, ja? < 

Ich lasse ihn. 

   

Eine Stunde denkt er drüber nach. 

Zwei. 

Drei. 

Abends kommt er wieder - löst meine Fesseln. 

> Kkkeine Aaahnung, ob Ulric ddda mitmacht. Ich wwwerds 

versuchen. < 

Ich lächle, obwohl mir nach Kotzen ist - streichle ihm Haare, 

Stirn und Segelohren. Er genießt es. 

> Bbbleib hier oooben, bbis das gggeregelt ist, < japst er unru- 

hig und geht. Tür und Sperrriegel lässt er unverschlossen. 

Ich horche. 

Seine Schritte. 

Dann Stimmen. Sie werden lauter. Noch lauter. Ulric brüllt. 

Louis brüllt zurück. 

Der Sturm rüttelt am Turm. 

Von unten Mordslärm. Ein Krachen. 

Ich schleiche zur Tür; spähe nach unten - sehe, daß der alte 

Louis bereit ist, für all die schönen Versprechungen zu kämp- 

fen. Er ballt die Fäuste und schlägt zu. 

Ulric duckt sich, weicht aus und lässt nun seine ganze Kraft in 

Louis Magen krachen. 

Der Alte sackt hin, rappelt sich aber wieder hoch. Ulric lässt 

ihm zum Stehen nicht viel Zeit. Sofort prasseln weitere Hiebe 

auf   Louis nieder...Der Alte knickt wieder ein, doch diesmal 

fängt Ulric ihn auf; schleift ihn zur Tür, reisst dieselbe zu sich 

und schreit gegen den fauchenden Wind an: > Mit besten Grü- 

ßen vom Vorgänger, Arschloch! < 

Er stößt Louis ins Freie - doch der weht ungewollt zurück. Der 

Sturm ist übermächtig. 

Ulric packt erneut zu, stemmt sich gegen den eisigen Nord- 

wind; gelangt Schritt um Schritt ans tosende Wasser. 

Die Außentür knallt zu. Der Schlüssel fällt aus dem Schloss.

Der Schlüssel zum Leben..! 

Ich renne. Die Wendeltreppe. Stolpere. Renne weiter. Noch 

wenige Meter. Gleich...Stimmen von draußen. Nein, eine Stim- 

me. Die von Ulric...Großer Gott, nein..! 

Ein dumpfes Klatschen. 

> Und grüß mir die See!, < brüllt Eric. > Hast es ja so gewollt, 

alter Narr! < 

Knirschende Schritte. 

Er kommt zurück! 

Jetzt schreie auch ich. 

> Den Schlüssel! Ins Schloss! Schnell! Zweimal herumwirbeln. 

Zu. Die Tür ist zu! Ha...! < 

Im gleichen Moment kippt der Griff nach unten; immer wieder. 

Aber die Tür ist zu. Ich rutsche daran runter; schreie; weine. 

   

Draußen wütet der Sturm - zwingt jeden anderen Laut nieder. 

Ulric tritt gegen die Tür; wirft sich dagegen. Der Sturm wirft 

ihn zurück. So geht das endlos lange - bis einem die Kraft 

ausgeht. 

Dem Mann. 

   

   

Ich war eine andere....erkannte plötzlich Daniel, oben, auf 

der Treppe. Er stand da und winkte, als sei alles in Ordnung. 

Ich fasste Mut und ging ihm entgegen. Wir liefen hinauf, lach-

ten und streckten die Nasen zum Bullauge. In der Brandung 

rang ein Mann mit dem Tod. Er streckte die Arme zum Himmel, 

und ertrank. 

   

   

Frühmorgens legte sich der Sturm. 

Risse im Himmel. Dann Licht. Endlich Licht! Die Luft raucht. 

Absolute Stille. Wellen sind wie flache, blaue Gräber. 

Ein Rauschen. 

Das Versorgungsschiff. 

   

Wir stiegen an Deck. 

Fragen. Viele Fragen. Ich versuchte ein Lächeln in Daniels 

Richtung und sagte müde: > Zwei sind ertrunken. < 

> Sie meinen drei, Madame? < 

> Nein, zwei. < 

 

 

 ©  Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

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