Erinnerungen 2

Inhalt:

 

 

Schokolade

Das Inserat

Kann das weg?

Gestern war es still

Blingbling

Das Lächeln des Mondes

Schiffe fahren

Am Dorfplatz

Hausbesuch

Mit letzter Kraft

Die Stille des Burgwächters

Tote Hose

Deine Beine

Am Weiher

Tollhaus

Bis zur Dämmerung

Feierabend

Shadow - bei dir war es Liebe

Ein Meter-Mann (Die Kornblume)

Der Mann am Bahnsteig

Maimorgen

Schattenfunkeln

Nachtklänge

Schokolade

 

 

Die Pralinen von Susann

schmecken einfach himmlisch gut,

sagt sich Johann dann und wann -

nur ihr nicht - dazu fehlt der Mut.

 

Susann kreiert die Köstlichkeiten

höchstselbst schon früh an jedem Morgen.

Jedoch die Preise überschreiten

sein Budget - das macht ihm Sorgen.

 

In ihrer Chocolaterie

weilt Johann staunend alle Tage.

Am Stehtisch - mit viel Fantasie -

peilt er schon die Pralinen - Lage.

 

Hinterm Glas lacht Schokolade

ihn in zig Varianten an:

dunkel, hell, weiss, rund, gerade.

Susann lacht nicht minder dann.

 

Sie weiß längst, was er gleich fragt.

„Die mit Pistazie, darf ich mal...?“

So scheu, wie er es immer sagt,

sagt sie, wie immer: “ Gute Wahl!“

 

Dann der Moment für den Genuss.

Im Mund erspürt er Sinnlichkeit.

„Mmmmhh, köstlich!“, schwärmt er.

Wie ein Kuss...

und schließt die Augen kurze Zeit.

 

Das mit dem Kuss, dachte er nur

und sagt es freilich nicht.

Das andere jedoch - den Schwur,

den singt er beinah: „Ein Gedicht!“

 

So zart hinschmelzend. Viel zu schade,

um je im Munde zu vergehn....

Auch das dachte er nur gerade

aus Angst, sie könnt´ es falsch verstehn.

 

Erschrocken hält er plözlich ein:

im Mund ein unbekanntes Ding.

Was mag in der Praline sein?

Zumindest schmilzt es nicht dahin...

 

Unbemerkt dreht er sich weg,

um das Hindernis zu sehn.

Ein Zettel : Hol dir Leichtgepäck,

um mit, ins Schokoland zu gehn!

Puerto Rico mit Susann...

Weiteres ergibt sich dann.

 

                          *

 

...Von hier an ist es nicht mehr weit,

zur vollkommenen Sinnlichkeit.

 

 

 

(c) Ralph Bruse

Das Inserat

 

 

Reife Frau sucht reifen Mann...

stand knapp in ihrem Inserat.

Nun schaut sie sich den Briefberg an

und schreitet lesend gleich zur Tat.

 

Ein Peter schreibt, er wär recht arm.

Ganz bettelarm auch wieder nicht.

Die Stube wird zwar nie ganz warm

und oft sitzt er bei Kerzenlicht.

 

Er sei halt sparsam - brauche wenig.

Okay, das ist dein gutes Recht.

Du wirst trotzdem nicht mein Herz-König,

denkt sie sich den Geizhals schlecht.

 

Der zweite Kandidat heißt Günther -

und der schreibt ziemlich frech:

ich bin dein Bärenfell im Winter.

Im Sommer nicht?, denkt sie. Dein Pech.

 

Der nächste bitte...Wie heißt der?

Robert - und sein Jaguar.

Er liebt den Flitzer - prahlt auch schwer,

daß er oft in Monaco war.

 

Ein Ferdinand von blauem Blute,

lädt sie gleich ein, zu sich, ins Schloß.

Schreibt wörtlich: mir wird wohl zu Mute,

reiten wir hier durch´s Tor, zu Ross.

 

Ein Dichter macht auf dicke Hose

und schickt gleich ein paar Reime mit:

Du wirst die meine, stolze Rose.

Ich hüte dich auf Schritt und Tritt.

 

Auf Schritt und Tritt...? Das strengt nur an, 

gesteht sie sich schnell ein.

Das ist mal wieder typisch Mann -

will mich für sich so ganz allein.

 

Der adelige Reitersmann

sitzt mir zu hoch auf seinem Ross.

Ich brauche doch kein Pferdgespann;

schon gar kein altes, kaltes Schloss.

 

Der Rob mit seinem Jaguar E

soll an die Cote dÁzur -

mit seinem dicken Portemonnaie

erhält er manchen Liebesschwur.

 

Der Günther mit dem Bärenfell:

scheinbar ein Möchtegern - Rebell,

sucht nur ein schnelles Abenteuer

für Langzeit reicht es nicht, sein Feuer.

 

Den schwarzen Peter brauch ich nicht.

Er friert vor Geiz bei Kerzenflamme.

Auf Körperpflege nicht erpicht,

kennt er auch keine Badewanne. 

 

Die reifen Männer sind wohl rar

und einen andern will ich nicht.

Ihr könnt mich alle - ist doch wahr!!

Ich will ´nen Kerl und keinen Wicht.

 

Ach hier - da schreibt mir noch der Klaus.

Er lädt mich ein zur Dichterrunde.

Na, das sieht doch ganz prima aus:

Da geh ich hin zur Abendstunde.

 

 

 

(c) Ralph Bruse

Kann das weg? 

 

 

Einer zuviel am Essenstisch...Wieder mal, denkt er angeödet,

während er sich von den Knödeln nimmt und voller Unlust 

den Sauerbraten zwischen den Zähnen zermalmt.

Das Federvieh muß weg!. Ein – für allemal!, denkt er schon

weiter. Nur: wie?

Hanna lächelt. Lächelt seitwärts den komischen Vogel an -

nicht Hagen, der genau gegenüber am Tisch sitzt: also auch

direkt in ihrem Blickfeld. Soweit war es schon gekommen...

> Bist ein Schatz. Mein Schatzi!, < haucht Hanna mit vorge-

streckter Kuss-Schnute. Meint aber ebenfalls den Graupapa-

gei, der auf ihrer Schulter sitzt und sich seelenruhig mit Knö-

delbrocken füttern lässt.

> Schatziiiii!, < krächzt der Vogel, nachdem er prompt mit-

ten auf dem Tisch landete, um von da besser an das dampfen-

de Essen zu gelangen.

> Meiiiin Schatziiii!, < kreischt der Vogel und tappt näher 

zur Tischkante, direkt neben Hannas Teller, wo er dreist von 

ihrer Mahlzeit pickt, was ihm gerade vor den krummen 

Schnabel kommt.

> Nimm nur, mein Kleiner, < schmatzt, spricht und lächelt

Hanna gleichzeitig, während ihr vor lauter Freude etwas von 

der Soße am Kinn herabläuft.

Hagen zerkaut das recht zähe Fleisch und kommt langsam in 

innere Aufruhr. Am Ende der Mahlzeit – jeder Mahlzeit – wird 

wieder ein finsteres, rasendes Meer in ihm toben. Die reinste 

Sturzsee wird ihn durchrütteln, und er muß sich jedes Mal 

mächtig zusammenreißen, das vorlaute Federvieh nicht sofort, 

Kopf voran, in den heißen Kloßtopf zu stecken.

 

Glücklicherweise holt ihn dann Ernüchterung ein. Leicht ist 

das sicher nicht - für ihn  - für Hanna noch weniger, wüsste sie 

von seinen geheimsten Gedanken, denn sie liebt ihren Vogel ab-

göttisch – und der sie. Der wacht sogar nachts am Kopfende ih-

rer Schlafstatt, weicht keinen Meter, um über ihren Schlaf zu 

wachen. Für Hagen bleibt da nicht viel an Zeit, Zuwendung, ge-

schweige denn: Liebe übrig. Mal ein flüchtiger Kuss vor der 

Nacht in getrennten Betten – und nach den Mahlzeiten ihre 

immergleiche Frage: > Kann das weg? <

Ohne seine Antwort, oder wenigstens ein Nicken abzuwarten, 

schnappt sie nach Töpfen und Geschirr. Den Papagei wieder auf

ihrer Schulter, geht es nach nebenan, in die Küche.

> Ja, mein Goldschatz, jetzt machen wir beide die Küche blitze-

rein, < vernimmt Hagen es ein Dezibel gedämpfter und ist drauf 

und dran, den beiden Schwerstverliebten ein paar passende 

Wutproben nachzuwerfen.

> Küche reiiiin. Schatziiii!, < plappert der Vogel nach. Sprachta-

lent hat das Federvieh, muß Hagen sich eingestehen - rot vor Zorn 

wird er dennoch. Er rappelt sich auf, geht erstmal im kleinen Vor-

garten eine schmauchen - so richtig tief auf Lunge, daß es schmerzt 

in der Brustgegend und das Schwindelgefühl allen Groll zum Teu-

fel schickt.

Viel hilft das nicht, also schnappt er nach der Axt im Geräte-Schup-

pen und schlägt Baumstümpfe zu Kleinholz. Der halbe Garten ist

schon von Feuerholz belagert. Überall türmt es sich an die zwei,

drei Meter hoch. Bald wird der nervende Papagei unter einem der

Haufen liegen...schwört er sich. Bald...Dann fliegt er mit in den O-

fen und keiner merkt irgendwas...Er wird den Eindringling einen

Kopf kürzer machen, wird vorher dem hässlichen Vogelkopf mit 

der weißen Gesichtspartie sein verächtlichstes Grinsen entgegen-

schleudern, wird ihm außerdem erst noch die rötlichen Schwanz-

federn einzeln ausrupfen - und dann - hallelujah - kann der krei-

schen, wie er will: keiner hört es - auch nicht das kurze Zischen 

der Guilliotine - genauer: wenn das Hackebeil dumpf in den be-

reitstehenden Holzbock kracht.

Ende. Ruhe ist dann. Himmlische Ruhe.

 

Schweißgebadet steht er nun da; hackt unermüdlich Holz. Ein

irrer Rausch beflügelt ihn. Sein helles Lachen: ebenso irre. Und:

befreit! Er hat alles schon bildhaft im Kopf: den unerbittlichen

Henker Namens Hagen...Er, der willensstarke Vollstrecker in

gerechter Mission.

Bleibt nur die eine Frage: wie den Vogel um die Ecke bringen, 

ohne daß Hanna Verdacht schöpft und ihm die Schuld in die Schu-

he schiebt?

> Das kann dann mal weg!, < lacht er immer noch berauscht und

und mit sich selbst redend. Da gibt es nämlich auch eine prima 

einleuchtende Lösung für das kleinste Problem. Hanna lässt sich 

oft und gern die Haare striegeln, schneiden, färben und föhnen. 

Alle zwei Wochen, immer Mittwochs, ist sie bei ihrem Lieblings-

Friseur, einem schwulen Freund, aber das tut nichts weiter zur 

Sache. Genug Zeit jedenfalls, um den anhänglichen Vogel auf 

Nimmerwiedersehn verschwinden zu lassen. Der ist abgehauen, 

ist einfach rausgeflogen und nicht mehr zurückgekommen, wird 

er Hanna vorsagen, bis sie es, sicher herzzerreißend weinend 

glaubt, weil Hagen gewiss nicht müde wird, es nochmal und noch-

mal zu wiederholen. Er wird auf alle seine Vorfahren schwören, 

die vollste Wahrheit zu sagen. Halb so schlimm: seine Vorfahren 

sind hinüber und können ja schlecht das Gegenteil behaupten.

 

Ein guter Plan, findet er abschließend und lacht so laut und schal-

lend, daß sogar Hanna kurzzeitig im Garten auftaucht; fragt, ob 

ihm zu wohl ist?, ihn mahnt > psssst, < daß der Papagei gerade 

Mittags-Schläfchen hält, und kopfschüttelnd wieder ins Haus zu-

rückgeht.

 

 

Hanna schleicht zum Käfig, da brüllt ihr der Papagei entgegen:

"Eine harte Nuss, eine harte Nuss, eine....". "Ja, ja, ich hol ja schon 

was für dich, mein Schatz". Sie greift in den Korb am Fenster und 

holt zwei Walnüsse, die Chico so gern frißt. Vorsichtig öffnet sie 

den Käfig, damit er sich nicht so eingesperrt fühlt, der Ärmste. 

Seit sein Freund tot ist, fühlt er sich einsam und wird immer an-

hänglicher. Sie sollte doch mal nach einem zweiten Vogel Aus-

schau halten. Andererseits ist es auch tröstlich, zu wissen, dass 

Chico sie mag. Na ja, er braucht sie jedenfalls. Hagen interessiert 

sich schon lange nicht mehr für sie. 

Gerade hereingekommen, schmatzt er missmutig am Essen, das 

sie mit viel Aufwand gekocht hat und ihm, wie immer am bunt 

gedeckten Tisch serviert. Er sitzt einfach da - auf die Ellbogen ge-

stützt - stiert in den Teller und manchmal fällt sein verachtender 

Blick auf ihren Liebling. Kein Wunder, dass Chico ihn nicht mag. 

Mitten in ihre Gedanken schrillt das Telefon. Seufzend nimmt sie 

den Hörer ab:" Ja, Mittwoch geht klar. Kann ich mitbringen - ja. 

Eisenhut? Weiß nicht.... Jonny, denk bitte dran; diesmal etwas 

kürzer. Ja, eine harte Nuss - kann man wohl sagen. Bis denn; 

Bussi!"

 

Der Papagei blickt sie forschend von der Seite an und überlegt,

was das mit dem Eisenhut soll. Sie hat doch noch nie einen Helm 

aufgesetzt, wenn sie mittwochs zum Friseur ging. Will er ihr ´ne 

neue Frisur verpassen? Bloß nicht! Ihre schönen Locken. Er legt 

so gern seinen Kopf in ihre Haarpracht. Eisenhut - der ist ja auch 

viel zu schwer für sie. Da muss ich mit. Dieser Jonny schleimt sich 

immer bei ihr ein. Ob der wirklich schwul ist? Ich mag ihn nicht. 

Eitel ist der und überhaupt... will der mir vielleicht noch meine 

Nüsse wegnehmen? Eine harte Nuss.....sowas!

Zornig fliegt er im Zimmer auf und ab, kackt aufgeregt umherflie-

gend in Hagen´s Schoß; der schnellt hoch und wirft ihm das Ge-

schirrtuch, das er statt der Serviette um den Hals gebunden hat, 

entgegen. "Scheiß Papagei!" flucht er und rennt wieder hinaus in 

den Garten. 

 

 

Mittwoch

 

 

"Komm, mein Schatzilein, wir fahren jetzt zu Jonny." Sorgfältig 

verfrachtet sie den Vogelkäfig mit Chico ins Auto, malt sich die 

Lippen nach, prüft ihr Makeup im Spiegel und los gehts!

Der Papagei sitzt missmutig in seinem Gefängnis und wundert 

sich, dass sie keinen Helm trägt. Ob sie den vergessen hat? Eisen-

hut....harte Nuss...das kann ja was werden!

 

In der Schillerstrasse Nr. 7 gibt es keinen Friseursalon. Hanna 

stolziert auf Highheels zum Eingang - ohne Chico - und schellt.

Tür auf - Tür zu. Die Zeit vergeht.

Oben zieht jemand die Jalousien zu. " Harte Nuss!..." schreit Chico. 

Nichts. Keine Nüsse - niemand da. Wütend sitzt er im Auto, schielt 

immer wieder zum Fenster - irgendwann schläft er ein. 

Zwei Stunden später klappern die Jalousien in Nummer 7 und Han-

na schreitet leichtfüßig aus dem Haus. Im Arm trägt sie eine Pflan-

ze. Sie sieht schön aus. Und die Pflanze erst: blaue Glocken. Royal-

blau....

 

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Zeichnung: open cliparts

Gestern war es still


Wirbelnde Schneeflocken kratzen leise an dunklen Fensterscheiben.
Belina sitzt an ihrem wackeligen Küchentisch. Blickt müde vor sich
hin und ins nur leicht tröstende Kerzenlicht. Um sie herum nur düs-
tere Schatten, jenseits der flackernden Kerze.
Vor einigen Tagen war ihr der Strom abgestellt worden. Die kleine
Rente, die ohnehin nur für das Allernötigste reichte, ist zu knapp ge-
worden. Strom- und Gaspreise waren zuletzt rasant angestiegen. Da
hielt ihr karges Altersruhegeld nicht mehr Schritt.
Es geht auf Weihnachten zu. Auf Dächern, Wegen und Strassen blin-
ken unter geschlossener Schneedecke abertausende Silbersternchen,
als wollten sie einstweilen alles mildern, was sich an helleren Tagen
in Hässlichkeit sonnt.
Große Kühle macht sich in der Küche breit. Belina trägt dicke Klei-
der, Wollsocken und zieht die gefütterten Stiefel nur noch zum Schla-
fengehn aus. Oder dann, wenn Frieder, der ältere Mann, eins tiefer,
heimkommt und die Elektro - Heizung kräftig rotieren lässt. Schnell
zieht die Wärme dann hoch, zur Decke - durchdringt die hellhörigen
Mauern. Ebenso schnell zieht Belina Stiefel und Socken von ihren
Füssen; spürt die milde Wärme von unten durch und durch. Fußbo-
denheizung, sozusagen. Sie schmunzelt dann, auch wenn ihr eigent-
lich nicht danach ist.
Gegen 22 Uhr dreht Frieder seine Heizung wieder herunter oder ganz
aus. Dann beginnt ihr Frieren von vorne. Also: wieder dicke Socken
an und flugs rein, ins Bettgebirge aus zwei Decken und einer prallen
Zudecke mit Gänsefedern, die ihr eine wohlwollende Frau in der Klei-
derstube für Bedürftige einst zusteckte.
Frieder hatte ihr neulich Hilfe angeboten. Ganz nebenbei auch das Du.
Er sprach davon, dass er ihr einen rollbaren Gasofen in die kleine Woh-
nung stellen könne. Aber Frieder ist ein Hallodri und so selbstlos dann
doch nicht. Als er an ihrer Tür stand - schon mit Gasofen beladen und
vielsagendem Grinsen im Gesicht, musterte er Belina dermaßen ein-
dringlich und unverschämt von oben bis unten, dass sie dankend ab-
lehnte und ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

Heute Abend ist es still in der Wohnung, eins tiefer. Ihr Nachbar wird
irgendwelchen Frauenröcken nachjagen und noch in irgendeinem Gast-
haus seinen Bier - und Liebesdurst löschen.
Belina schüttelt es frierend. Sie schiebt den Stuhl zurück, geht ans Fen-
ster. Es hat aufgehört, zu schneien. Der schwach flimmernde Himmel
thront wie ein bleiernes Gespenst über der Stadt. Die wenigen Straßen-
lampen funkeln unwirklich unter schwerer Nässe. Weiss alles, da drau-
ßen. Weiss angestrichen. Morgen wird alles wieder in Grau sein und
kaum noch ein Auge erfreuen.
Fast überfallartig reißt die Trübe des Himmels auf. Der Mond strahlt
hell und klar und voll herab. Direkt in ihre Küche. Dann ein Kometen-
schweif, der nach wenigen Sekunden Belinas Fenster trifft und lautlos
dahinter, ins Düstere langer Schatten eindringt, um sie mit würdiger
Helle zu füllen.
Ein Zeichen, geht es ihr durch alle Sinne. Das muss ein Zeichen sein....!
Und plötzlich regnet es Sternschnuppen. Erst wenige, dann immer mehr.
Sie kann sie nicht mehr zählen; so viele auf einmal! Minutenlang steht sie
gebannt, von gleißend funkelnden Lichtern umringt, da. Drückt die tröp-

felnde Nase ans Fensterglas. Schaut staunend, mit halboffenem Mund

und angehaltenem Atem abwechselnd hinauf zum gütigen Abendhimmel

und wieder hinab, auf die menschenleere Strasse.
Schließlich legt sie den Schal um, zieht ihren Filzmantel über und läuft,

wie von fremder Hand gezogen, die Treppe hinab, ins Freie.

 

Frieder

Belina, die von oben, muss völlig verrückt geworden sein...Komm ich spät-
abends nach sieben Bier und einer gekauften Liebesstunde nach Hause; da
tanzt die durchgedrehte Nachbarin im Schnee. Das ist ja auch nicht weiter
schlimm...Wer freut sich denn auch nicht an Weihnachten über etwas
Schnee...Nein, die Irre tanzt mitten auf der Strasse, reckt die Arme in die
arschkalte Luft und ruft in einer Tour: > Schön. Wie schööööön! <
Bin ja kein Sturkopf. Dachte schon erst: nee, Verrückte gehn mich nichts
an. Aber die Verrückte da, das ist eben Belina. Die Hübsche von oben, mit
der ich schon immer gern mal....Na ja, aber sie schlägt ja alle Angebote
aus. Hilfe will sie nicht, den Blumenstrauß von neulich lässt sie vor der
Tür liegen, bis sie welken und die gelegentlichen Pralinengeschenke eben-
so.

Irgendwann gab ich es dann auf. Ging mich nichts mehr an, ihr Kummer.
Meinte es ja nur gut mit ihr. Und ein bisschen Schmusen, oder mehr, wird
man ja wohl noch als Dank erwarten dürfen.
Ist nicht. Die hübsche Belina will nichts von mir. Kann es ihr noch so drec-
kig gehn. Schlägt sie aus, die hingestreckte Hand. Ist so. Nichts zu machen.
Und jetzt wirbelt sie da auf der Strasse im Kreis und ruft die ganze Gegend
zusammen mit ihrem entzückten Gejohle: > Wie schööööön! <
Versteh ich irgendwie auch nicht, was da so schön ist. Es hat wieder zu
schneien angefangen...gut, aber deshalb muss sie ja nicht gleich so´n Wir-
bel drum machen. Morgen taut der ganze Zauber eh wieder weg und kei-
ner wird drum weinen - außer Belina, vielleicht.
Ich geh nicht zu ihr, um sie von der Strasse zu ziehn. Bin doch nicht blöd
und fang mir wieder einen Korb ein! Also verzieh ich mich in die Bude,
werf die Heizung an und köpfe die achte und letzte Bierflasche des Tages.
Ich sitz dann so am Tisch, denk an nix Schlimmes; oder doch, nämlich,
wie unbefriedigend der Besuch vorhin, bei der abgetakelten, unterkühlten
Liebesdame war....
Auf einmal: mordsmäßiges Motorengeheul - ein Schrei - von der Strasse
her. Die halbleere Bierflasche unterm Arm, wandere ich ans Fenster, ver-
kippe das Bier; brülle: > He, bleib da, wo du bist. Und komm bloß nicht
auf die komische Idee, abzuhaun.! <
Der Fahrer des Luxusschlittens denkt offenbar gar nicht daran, abzuhaun.
Er beugt sich über Belina, redet ihr unverständliches Zeug zu. Sie wim-
mert vor Schmerz. Das legt sich aber nach einer Weile. Ihr Jammern
verstummt schließlich ganz. Wohl nicht so schlimm, denk ich und schließ
das Fenster, weil da ein entschieden zu kalter Wind reinbläst.
Setze mich wieder. Überlege. Dann die Einsicht, nach ihr zu schauen und
ob der Fahrer nicht doch noch die Kurve kratzte und die Verletzte einfach
liegen ließ.

Ließ er nicht.
Keine fünf Minuten später stehe ich am Straßenrand; sehe, dass der Übel-
täter sich um sie kümmert. Fast zuviel für meinen Geschmack. Und Belina
hält sich zwar noch die schmerzenden Beine, starrt den Typen aber auch
gleichzeitig an, als wäre er der heilige Bimbam oder wenigstens ihr Retter:
Lächelnd. Ja, breit lächelnd. Und der Kerl lächelt süßlich zurück. Herrjeh -
also, wenn die beiden so honigsüß weiterlächeln, wird´s klebrig, friert ein
und dann können die bis ans Ende ihrer Tage nur noch lächeln - oder müs-
sen es - je nach dem, wie man´s sieht. Völlig meschugge, denke ich nur.
Plemplem - alle beide.
Der Wagen jedenfalls ist noch heil. Nur eine lange Bremsspur im Schnee
und der Flitzer steht quer auf dem Asphalt. Die Tänzerin im Schnee ist
wohl auch nur leicht an den Beinen lädiert. Alles weniger tragisch, als der
Schrei, den sie vorhin losließ.
Okay, halb so wild, sage ich mir und verzieh mich, weil meine Hilfe da of-
fensichtlich fehl am Platz ist.

Nachher, als ich mit guter Schwips-Schwere in meiner warmen Koje liege,
höre ich im Halbschlaf nur noch den Tatütata - Krankenwagen, der die Ver-
rückte von oben mitnimmt. Wahrscheinlich mit Sportflitzer, samt Fahrer,
im Windschatten.
Wie die zwei sich vorhin, auf der zugeschneiten Strasse angeglotzt haben...
Der letzte, halbwegs klare Gedanke daran - nicht ganz ohne Neid - wurmt
mich schon noch etwas - gebe ich zu. Wie oder was auch immer da bei de-
nen schon im Busch raschelte: ein paar Schrauben zuviel haben bestimmt
beide locker.
Ich ahne jedenfalls schon, dass es von nun an still sein wird, da oben, in
ihrer kalten Wohnung. Zu still.

Endlich setzt sich der dicke Sandmann mit dem noch dickeren Sack tröst-
lich auf meine Lider.
Nacht, allerseits.

 

Belina

Ach, ist das herrlich hier! Leuchtende Sterne und kleine, silbrige Kristalle,
die um mich herum schwirren. Ich will mich drehen, weiter tanzen, aber
meine Beine sind schwer wie Blei und lassen sich nicht bewegen. Ich strec-
ke die Arme hoch, dem Licht entgegen, aber irgendwer reißt sie wieder nach
unten. In meinem Kopf hämmert es, als wolle er jeden Moment zerspringen.
Ein verlockender Duft nach Zimt und Orangen zieht sich in meine Nase und
am Tischchen neben mir steht ein Becher mit Glühwein und ein Stück Stol-
len. Welch ein Luxus!
> Nochmal Glück gehabt, Frollein! <
Frollein - wie lange ist es her, dass man mich so genannt hat. Blutjung war
ich da.
Was ist denn mit meinen Haaren? Fühlt sich ganz anders an, da oben. Keine
Strähnen, die mir in die Augen fallen. Mein Kopf ist eingehüllt. Ein Turban?
Eine Krone?

Warm ist es hier. Wohlig warm. Wo bin ich? Alles so hell und freundlich und
ganz anders, als die dunkle Stube, in der ich gestern noch vor Kälte gezittert
habe. Singt da jemand von einer weißen Weihnacht?
Eine angenehme, tiefe Männerstimme. Ich denke an bessere Zeiten, als ich
mich noch nicht so einsam fühlte und diese stillen Tage glanzvoll und mit viel
Wärme ausgefüllt waren.
> Verzeihen Sie. Sie schwebten wie eine Schneeflocke auf der Fahrbahn und
zogen mich so in ihren Bann, dass ich zu spät auf die Bremse trat. <
Die Stimme; dieses Lächeln...Ich kenne den Mann. Aber woher? Sanft strei-
chelt er meine Hand. Jetzt erst bemerke ich den roten Weihnachtsstern, dort
am Fenster, in duftende Zweige eingehüllt. Eine Ewigkeit ist es her, dass ich
Blumen geschenkt bekam. Ganz zu schweigen von Streicheleinheiten. Höch-
stens mal von einer streunenden Katze, die sich im Vorübergehen schnur-

rend an meinen Beinen rieb, weil sie spüren wollte, dass sie nicht alleine ist.
Als er geht, legt er mir seine Visitenkarte neben den Weihnachtsstern.
> Ein gesegnetes Weihnachtsfest und gute Besserung, Schneetänzerin. <

 

Ich werde ihn nicht anrufen. Hab ja kein Telefon.
Etwas schläfrig, höre ich vor der Türe helle Glöckchen klingen und Kinder-
stimmen, die aufgeregt fragen, ob das Christkind auch hierher kommen wür-
de, wenn sie nicht zuhause anzutreffen sind...
Unten, von der Strasse her, lärmt es ohrenbetäubend: > Tatütata < dann ver-
hallt die Sirene in der Tiefgarage.

Ich denke an Frieder. Was macht er heute Abend? Ob seine Liebesdienerin
oder eine seiner Zufallsbekanntschaften zu Weihnachten Zeit hat für schnel-
len Sex? Liebe: hat er sie je erfahren? Trinkt er soviel, weil er enttäuscht
wurde - von Frauen, vom Leben überhaupt....?
Eigentlich ist er ganz nett, der komische Kauz. Hat sich einfach zu dämlich
angestellt mit seiner blöden Anmache. Na ja, die Pralinen waren schon gut
gemeint. Ist eben schrecklich unbeholfen, der Kerl.

Wenn ich im Neuen Jahr wieder zuhause bin, werde ich einen Kuchen bac-
ken und an seiner Tür läuten (hab ja dann das Geld, das ich hier nicht brau-
che, übrig)
> Frieder, für Dich ein gutes Neues. Und überhaupt: Das Leben ist schön.
Wir müssen es nur reinlassen - zu uns. Also: trau Dich. <

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Bild: pinterest

Blingbling


Der Nikolaus kommt gegen acht,
versprach der Opa immer.
Wie er das sagte; sanft dann lacht
und hinaus schlich aus dem Zimmer;
da ahnte ich schon so im Stillen:
Opa geht jetzt erstmal chillen.

Bis acht Uhr ist ja noch viel Zeit,
den Jutesack zu füllen.
Vielleicht - wenn´s um die Ecken schneit,
muß man den Durst auch erstmal stillen.

Oma köchelte Kesselwein,
mit Sekt, mit Früchten, Duftgewürzen.
Das heizte Opa gründlich ein,
um Wanderwege zu verkürzen.

Gegen acht - wie schon versprochen,
kam er dann, der Nikolaus.
Im Zimmer hat´s schon arg gerochen,
als er schnaufend kam in´s Haus;
mächtig trudelnd wie ein Boot,
in schwerer See und Rettungsnot.

Zum Glück stand der geschmückte Baum,
drei, vier Meter weiter weg...
Der Nikolaus flog in den Raum
und rührte sich nicht mehr vom Fleck.

Wie er so lag - den Sack als Kissen
unter dem weissen Rauschebart;
spätestens da sollt´ ich wissen:
die Niko-Tour, die ist schon hart.

Eins, zwei....sieben Kinder standen
im bulligwarmen Zimmer.
Nicht cool, der Faul-Nik, wie wir fanden.
Doch ohne ihn wär es viel schlimmer.

Er hatte ja den dicken Sack
bis oben voll mit reichlich Gaben.
Was darin lockend raschelt, knackt,
will man ja auch in Händen haben.

Nur: schnarcht der Faulpelz eben drauf.
Sowas hat doch niemand gerne...
Wenig Spannung – nur Geschnauf,
sieht Niko lauter Blingbling – Sterne.

Oma Anne eilt  zu ihm;
hält ihm grob die Nase zu.
Beginnt damit, am Bart zu zieh´n.
Lachend schau´n wir Knirpse zu.

´´Steht nicht da, wie sieben Zwerge!,´´
ruft Oma aus mit Heldenmut.
´´Ab mit ihm, hinter die Berge.
Im Kleider - Schmutzberg liegt er gut!´´

“Oma, bitte, sei so nett
und versuch´, den Sack zu retten.
Roll den Niklaus auf´s Parkett;
leg´ ihn dann in ein´s der Betten.”

“So machen wir´s, ihr schlauen Zwerge.
Kommt, packt ihn an den Füßen.
Hier sind sie ja, die Wäscheberge.                                
Dahin legen wir den Süßen.´´
                                                                            
Oma leert den Jutesack
und verteilt den Inhalt redlich,
nur nicht Opa´s Schnupftabak:
der ist für die Knirpse schädlich.

Flugs versteckt sie noch die Rute,
weil die Kids so fröhlich toben.
Nur der Benni zieht ´ne Schnute:
Keiner wird sein Verschen loben....

Mühsam hat er es geschmiedet,
um beim Nikolaus zu punkten.
Der liegt zott´lig – übermüdet
und sieht schnarchend Glitzerfunken.

Dackel Purzel stürmt herein,
dreht sich – beißt sich in sein Fell.
Fing er Flöhe sich wohl ein
bei dem Igel – Kurzduell?

Oma Anne platzt der Kragen:
“Kommt mal einer von euch her        
und packt mit an, den Hund zu tragen!
Der ist ja fast genauso schwer!´´

                        *

Vielleicht, wenn Niklaus wach erst ist;
auf festen Beinen grade steht
und seinen Jutesack vermisst,
will er, dass ihr ihn munter seht...

Erzählt euch von dem finstren Wald
und von den goldnen Lichterlein.
Sein Schnarchen ist dann längst verhallt
und das Blingbling nur milder Schein.

 
Worte: (c) Ralph Bruse
Zeichnung: open cliparts

Das Lächeln des Mondes

 

 

Die Nacht durchweht den Weg zum Ort

mit altvertrauter Stille.

Was eben da war, ist nun fort

und leicht wird die Gedankenfülle.

 

Nur einer steht noch hell, fast klar,

ganz reglos dort, in tiefstem Blau – 

weit oben, wo noch Himmel war

und nun ein Fetzen Wolkengrau.

 

Und auf dem Weg – im Geisterlicht,

geht jemand flüsternd für sich hin...

formt mit den Lippen ein Gedicht;

mondhell erfüllt sucht er den Sinn.

 

Fernab, der Mann am Brunnenrand -

gekrümmt, als würden Schmerzen bohren -

schöpft zögernd Wasser in die Hand

und Kräfte neu, die er verloren.

 

Im Toreingang dort, die Gestalten

fühlen sich vom Glück umschlungen.

Ihr Lachen klingt erst scheu – verhalten;

doch lauter dann und ungezwungen.

 

Highheels klappern übers Pflaster;

schlanke Beine eilen flink.

Tags schreibt sie an ihrem Master;

nachts genießt sie ihren Drink.

 

*

 

Noch immer reglos, hell und klar:

Der Mond dort oben hält die Wacht.

Er weiß, was ist, was kommt, was war....

strahlt Trost für alle in die Nacht.

 

 

Worte: (c) Ralph Bruse

Am Dorfplatz

 

 

Bei Hitze bleibt er gern zuhaus 

im dunklen Kühl der Leseecke;

doch heute treibt es ihn hinaus

zum hellen Klang der Dudelsäcke.

 

Von Weitem hört er Kinder jubeln

und Fröhlichkeit am Dorfplatzbrunnen -

selbst der scheint heiter mitzusprudeln.

Vorm ´Schwarzen Adler´ wird gesungen.

 

Der stille Mann, der selten lacht

nimmt Blicke wahr, die ihn erwärmen.

Er stolpert und knallt unbedacht

auf hinderliche Weglaternen.

 

So war es mit ihm immer schon:

die Scheu in seinem Innern blieb.

Doch manchmal kam zum Sehnen Lohn,

wenn er ins pralle Leben trieb...

 

...die Kinder sieht, wie jetzt den Jungen,

der ihm die Zunge weit rausstreckt:

laut schallend kichernd, ungezwungen.

Er weiß längst, daß der Knirps nur neckt.

 

Das Käppi legt er bald zur Seite;

wippt mit dem frohen Reigen,

da, auf der Bank, in heller Weite,

lässt flirrendbunt Gedanken steigen.

                         

                           *

 

Abends köpft er den guten Wein,

den er zuvor am Markt erstand.

Geht nochmal dorthin - zwar allein,

doch für sich schmunzelnd, 

auch leicht wankend

und mit weit offner Hand.

 

 

Worte: (c) Ralph Bruse

Bild: (c) I. Sperling

Hausbesuch

 

 

Wir wollten nur spazieren gehen,

raus, aus unserer beengten Welt.

Nun steht es da im Frühlingswehen,

wie für uns beide hingestellt...

 

Man ist ja nett und fragt erstmal:

> Was soll die Klitsche kosten? <

Da nennt der Geier eine Zahl,

daß uns die Ohren rosten.

 

Der Kerl muß weg, beschließen wir

und sperr'n ihn ein im Keller.

Dann: Großputz, in dem Saustall, hier.

Gemütlich wird es bald - und heller.

 

Der Mann im Keller meldet sich

so etwa jede halbe Stunde.

Den Preis verhandeln will er nicht

und hat doch schließlich frohe Kunde.

 

> Drei Wochen Ferien hier, im Haus.

Für nix. Und jedes Jahr! <

Brüllt er vom dunklen Keller aus

und rauft sich wohl den Rest vom Haar.

 

> Vier!, < ruf ich lauthals, ziemlich frech.

> Vier sollten es schon sein!

Wenn nicht, dann hast du eben Pech -

bleibst, was du bist: ein armes Schwein.

Schlürfst deine Suppe aus dem Blech

und bleibst dein Leben lang allein! <

 

Kein Mucks von unten. Alles still.

Ist denn der Vogel ausgeflogen?

Die Klingel an der Tür tönt schrill -

Scheinwerferlicht erstrahlt im Bogen.

 

Polente strömt zu uns ins Zimmer;

der Kellermann – dahinter – lacht.

Uns schwindet jeder Hoffnungsschimmer

und angesagt ist: Schicht im Schacht!

 

Die grüne Minna fährt uns weiter.

Wir sitzen dicht an dicht mit Schellen.

Nur unser Fahrer strahlt, lacht heiter -

erzählt vom Knast und seinen Zellen.

 

                               *

 

Vom Frauentrakt aus winkst du mir

zur Nacht, von gegenüber.

Ich denk' noch: träumen klappt auch hier

und husche zu dir rüber.

 

 

(c) Ralph Bruse

Valerie kommt heim

 

 

"Wo war ich bloß in all den Jahren?

Was hab ich anderswo gewollt?

Es rieselt silbern von den Haaren

und was verging, war Katzengold.

 

Warst du es, das treu nach mir rief;

nie vergaß meinen Namen -

in kalten Nächten, als ich schlief

oder Sehnsüchte kamen?

 

Nun lacht zwar niemand mehr am Fenster.

Der Himmel steht so still.

Verlassen floh´n letzte Gespenster,

was ich auch immer sag - und will.

 

Die Träume will ich trotzdem holen,

die aus jenen Kindertagen.

Glotzt ihr dann spöttisch, unverhohlen,

wie ich mich abmühe beim Tragen...

 

...Vom Fenster oben, schau ich bald

in Wolken, bis an´s Meer!

Ihr sagtet: ich sei viel zu alt,

das Denken fiele mir so schwer.

 

So schwer kann schon mal gar nicht sein,

umschlungen hier zu leben."

Sprach´s - humpelte ins Haus hinein

und lächelt stolz, soeben.

 

                         

Worte & Foto: (c) Ralph Bruse

Die Stille des Burgwächters

 

 

Punkt neunzehn Uhr schnauft er humpelnd die grauen Steinstufen

hinunter. Sein Zimmer ist unter dem spitzzulaufenden Turmgiebel.

Der einzige, bewohnte Raum der trotzigen Burg.

Unten angekommen, winkt ihm der letzte Tagesbesucher zu und 

verschwindet im dämmernden Wald, hangabwärts.

Er mag es, wenn wieder Friede in die alten Mauern einkehrt. Dann

ist er mutterseelenallein hier oben, auf der lichten Krone des Waldes.

Durchstreift alle Räume, Gänge. Erker, die zwei Aussichts-Plattfor-

men, das Kellergewölbe, das römische Bad.

Dampfbad...Das immer zuletzt, weil sie dort auf ihn wartet. Das

Schönste vom Tage...Er und Reja...Eigentlich eine etwas längere Ge-

schichte - und doch auch in Kürze erzählbar...Igor strandete vor Jah-

ren im nahe gelegenen Ort als Kriegsversehrter. Sein linkes Bein en-

det am Knöchel. Den Fuß hatte ihm eine russische Mine im Krieg zer-

fetzt. Er hatte nichts mehr - nur sich selbst. Er verließ die von Tyran-

nen besetzte Heimat schließlich in Richtung Westeuropa. Hier, im

Nachbarort angekommen, faszinierte ihn die mächtige, darüber lie-

gende Trutzburg auf Anhieb. Offenbar wollte sie niemand mehr ins-

tand setzen, weil sie längst an allen Ecken und Enden moderte und

ächzte. Ständig rollte Sand und brechendes Gestein zu Tal. Ein paar

Jahre noch, dann wird sie nicht mal mehr für Besucher begehbar -

und einsturzgefährdet sein.

Er erkundigte sich nach eventuellen Grundbesitzern; fand sie schließ-

lich auch und bat darum, kleines Eintrittsgeld von Gästen nehmen zu 

dürfen. Das würde er zu zwei Drittel an die Besitzer weitergeben - nur

einen kleineren Teil für sein anspruchsloses Leben behalten.

Seine zweite Bedingung war eher auch Bitte: in einer der oberen Burg-

kammern wohnen zu dürfen.

Der Burgherr ging nur zu gern darauf ein; hatte er doch ohnehin keiner-

lei Interesse, noch irgendwas an dem stetig weiter zerfallenden Burg-

Ungetüm auszubessern. Das würde Riesensummen verschlingen. Wa-

rum also nicht Eintrittsgelder kassieren, solange die alten Mauern noch 

hielten?

Gedacht, gesagt, getan.

 

                                                              *

 

Igor hat inzwischen das Burgtor verschlossen, alle Innentüren zugezo-

gen. Einige der monströs dicken Holztüren mit Eisenbeschlag im unte-

ren Teil lässt er offen, oder angelehnt. Von dort kommt Reja zu ihm - 

jeden Abend, über Nacht. Immer trägt sie das dünne, weiße, bodenlan-

ge Gewand, das bei jedem ihrer Schritte beruhigend raschelt.

Er sitzt wartend ganz unten, auf kühlem, grauen Gestein, im Dampfbad. 

Ein altehrwürdiges römisches Bad, das schon soviele Wunden reinigte. 

Das eingelassene, grünlich schimmernde Wasser im Becken dampft

wahrhaftig. Der ganze, mittelgroße Raum ist erhellt - wie angezündet. 

Leben spürt man darin. Ölfackeln lodern von silbern funkelnden Ble-

chen. Wasserdampf steigt auf, zieht in jeden Raumwinkel; wärmt alles: 

die hölzerne Bank am Beckenrand, den über Tag ausgekühlten Boden, 

Wände und den langsam abblätternden Deckenputz. Auch Reja und

ihn wärmt der auf - und abschwebende Rauch des Wassers durch und 

durch.

Sie sprechen kaum. Eigentlich spricht nur Igor gelegentlich. Aber Reja

versteht ihn. Jedes seiner Worte nimmt sie wahr. Dann wiegt sie ihren

bleichen Kopf an seiner Schulter, streckt die Füße aus, ins viel zu hei-

ße Wasser. Es macht ihr nichts aus. Je mehr Hitze, desto besser. Sie

lächelt einfach stumm und vergisst, daß sie immer nur an den Abenden

für sich zusammen sein können.

 

Lange, laute Stille entsteht. Dann packt Igor, wie so oft, Frieren und

heftiges Zittern. Das bittere Gift des Erinnerns an jene Morgenstunden 

schlägt unbarmherzig zu... > Da draußen sind sie, die wilden Tiere!, < 

schrie er gellend.

Reja - nur mit dünnem, weißen Nachthemd bekleidet, klammerte sich

an ihn. Dann stürzten sie aus dem Haus, das fast gänzlich in Schutt und

Asche war. Draußen, auf der Straße, peitschten Schüsse aus dem Hinter-

halt. Reja hielt ihn noch umschlungen. Sah ihn mit fragenden Augen

an. Dann brach ihr Blick und sie sank kraftlos nieder....

 

                                                                 *

                                                                 

Sie legt ihren Einkauf auf das Band im Supermarkt, als ihr plötzlich die 

Packung Tee aus der Hand fällt. Der Mann, der direkt hinter ihr steht, 

macht ihr Angst. Sie kann unmittelbare Nähe nicht mehr ertragen seit 

damals, als die Kugeln sie trafen und ihr die Soldaten zu nahe kamen, 

als sie schwer verletzt wehrlos am Boden lag. Reja bezahlt überstürzt 

und stürmt hinaus ins Freie.

Zitternd nimmt sie auf der nahestehenden Bank Platz und wischt sich 

aufsteigende Tränen aus den Augen. Der einzige Mensch, dem sie ver-

trauen könnte, wäre Igor, aber der lebt nicht mehr. Seit der Flucht aus 

dem Krieg, in dem beide Verletzungen erlitten hatten, verliefen sich ih-

re Wege. Alle Versuche, Igor wiederzufinden, schlugen fehl. Irgend-

wann kam dann die Nachricht von seinem Tod. 

 

Hier, in der warmen Frühlingssonne kommt sie zur Ruhe. Sie greift nach 

der Zeitung, die zerflettert neben ihr liegt und ordnet sie so, dass sie die 

Seiten, die sie interessieren, gut lesen kann. Börsenberichte, Wirtschaft, 

Politik, Feuilleton, Familienanzeigen, Reiseberichte...alles überfliegt sie. 

Plötzlich fasziniert sie ein Foto, das eine alte, düstere Burg zeigt. Mys-

tisch ragt diese gewaltig aus dichtem Wald zum Himmel empor. 

Neugierig geworden, liest sie gebannt den Artikel über den sonderbaren, 

hinkenden Burgwächter, der allabendlich vor den knarrenden Toren auf 

seine Liebste wartet....

Entsetzt springt sie auf: „Igor!´´ Das kann nur er sein. Ihre große Liebe – 

er lebt!

Das Herz klopft ihr bis zum Hals und mit Zeitung und Einkaufstasche 

eilt sie nach Hause.

Wie lange hatte sie davon geträumt, ihn wiederzusehen. Hatte man seinen 

Pass vertauscht, als man ihr die Todesnachricht übermittelte? Oder irrt sie

sich und er ist doch nicht der Mann auf der Burg? 

Während sie den heißen Dampf aus der Teetasse betrachtet, beschließt sie, 

dorthin zu fahren und den Einsiedler zu treffen. Wie gern würde sie sich 

an ihn schmiegen – seine Wärme spüren und seine Hände, die so wohltu-

end über ihre Haut streicheln konnten. Er mochte besonders ihre Brüste. 

Zweifel befallen sie: da, die hässliche Narbe, die sich jetzt quer über ihren 

Oberkörper schlängelt....Sie streicht bebend darüber hin; versucht ein trot-

ziges Lächeln.

 

                                                                 *

                                                                  

Als er an jenem kühlen Morgen, pünktlich um acht Uhr, das Burgtor auf-

schließt, um Besucher einzulassen, spürt Igor schon unermesslich, daß die-

ser Tag ganz anders werden würde, als alle Tage vorher...

 

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Tote Hose

 

 

Er schläft noch wie ein Bär im Winter.

Sie ist schon putzemunter;

wirbelt an Schränken und dahinter -

da fällt schon mal was runter.

 

Er wälzt sich auf die andre Seite,

schlummert ganz friedlich weiter;

hat ja das Bett in ganzer Breite.

Sie poltert auf der Leiter.

 

Er wälzt sich nochmal andersrum,

blinzelt ins grelle Licht:

Sieht Schenkel, Po...nuschelt: summ summ

und macht die Augen dicht.

 

Sie sieht ihn von der Seite an.

> Oh Mann, mein lautes Wirbeln

war für die Katz, denn momentan

lässt sich bei dir nichts zwirbeln. <

 

Es gibt ja noch Jetzt aber-Pillen.

Vier löst sie später auf im Tee.

Er blühte auf - war ihr zu Willen.

Doch danach war er hin...Oh weh.

 

 

(c) Ralph Bruse

Grafik: open cliparts

Deine Beine

 

 

Schau ich auf deine langen Beine

und kaum woanders hin,

sind kleinste Sorgen plötzlich keine,

weil ich nur noch aus Kribbeln bin.

 

Dein Küssen weht mich ja schon fort.

Dein Streicheln, vorher: sicherlich.

Doch deine Beine sind der Ort,

von dem wir reisen – du und ich.

 

Was du jetzt wohl gerade denkst;

den Blick mir lächelnd zugeneigt?

Von dir verzaubert bin ich längst.

So, daß nicht nur der Blutdruck steigt.

                           

                             *

 

Für dich trag  ich mein schönstes Kleid.

Die Haut, darunter: sommerbraun.

Dein Lächeln zeigt Befangenheit.

Sei unbesorgt und hab Vertrau´n.

 

Lass dich in meine Arme fallen

und küsse mich – genau, wie eben.

Bring mir das heiße Blut ins Wallen;

die ganze Welt um uns zum Beben.

 

Das denke ich, bei deinem Blick,

den du auf meine Beine lenkst.

Wir fühlen beide dann den Kick,

wenn du dich fest in mir verfängst.

 

 

Worte: (c) Ralph Bruse

Grafik: open cliparts

Am Weiher

 

 

Wir warfen die Angeln aus.

Saßen still.

Warteten.

Warteten lange.

Dann kam ein alter Mann vorbei.

Er ließ seinen schäbigen Hut am Ufer liegen.

Hinkte weiter.

In den Wald.

Auch nach Stunden kam er dort nicht mehr raus.

Es gab nur einen Weg hinein.

Und denselben hinaus.

Wir sahen ihn gehen. 

Und nicht wiederkommen.

Zuckten die Achseln.

Nur ein alter Mann.

Die reglosen Fische im Eimer starrten uns vorwurfsvoll an.

In der folgenden Nacht schliefen wir unruhig.

Nebel schloss den See ein. Ganz und gar.

Der alte Mann hüstelte irgendwo im Unterholz.

Schlief dort. Ohne Hut. Ohne Decke.

 

Früh am Morgen liefen wir zurück, ans Ufer. Zur Angelstelle.

Nichts mehr. Kein See. Kein Wald.

Nur Nebelsuppe. Leise zischende Bodenwolken mit sich 

schleppend. 

Wir flohen. Irgendwohin.

Alle Spuren verloren. Am trüben See. Im grauen Wald. 

Gestern noch.

Über Nacht verschwunden.

 

 

(c) Ralph Bruse

Tollhaus

 

 

Kaum kriecht am Morgen Licht herein,

sind hier die Bären los...

Das satte Leben soll es sein.

Wen stört das auch schon groß?

 

Die Ingrid bügelt Oberwäsche

und schmettert Operetten.

Schon springt auch Ute in die Bresche

und schüttelt nebenher die Betten.

 

Die beiden wohnen auseinander -

das nur so zum Verstehen.

Ganz oben: Ingrid. Unten: Zander.

Da kann kein Ton verwehen.

 

Ute Zanders´ Sing-Organ

klingt, als wär es Blech.

Was zählt schon Stimme...Hellster Wahn

fliegt laut umher – rotzfrech!

 

Der Jochen, draußen, wirft den Mäher

mit Schwung und Riesenfreude an.

Er ist der Wiesen-Hauptaufseher

und braucht bis gegen Mittag dann.

 

Zwanzig Meter im Quadrat:

so groß ist Jochens Rasen.

Da knattert´s fröhlich, in der Tat -

türmen, im Busch, die Hasen.

 

Liane aus dem zweiten Stock,

hat mit Männern viel zu tun.

Sie lupft beruflich Slip und Rock

und lässt es feste krachen nun.

 

Der Hubert wohnt schräg gegenüber,

hält seinen Feldstecher bereit.

In ihm erwacht Erwartungsfieber

auf heiße Live – Show. Er hat Zeit.

 

Fünf Kinder auf der Rutsche, unten

balgen sich um einen Ball.

Der Luca ist ganz still verschwunden.

Sport mag er nicht – auf keinen Fall!

 

Er liest viel lieber Tiergeschichten

schaut sich heimlich Krimis an,

um später alles zu verdichten

in Versen oder im Roman.

 

Sein Vorbild ist der Nachbar Ralph.

Luca liest gern, was der so schreibt -

denkt oft daran, dass der ihm half,

aus mancher Patsche - sowas bleibt.

 

Vorm Haus, da stülpt die alte Grete

sich auf ihr lichtes Haupt ´nen Helm;

will mit dem Moped zu Karl´s Fete

und hofft, er brutzelt Frikadell´n.

 

Der Rudi aus dem ersten Stock

schwirrt händeringend durch den Hof;

sucht auch bei Emma unter´m Rock

dabei seufzt er: „ Mensch, ist das doof!“

 

Die Emma, eine alte Miss

kreischt: „ Schwein! Hast du´s noch Alle?“

„ Ich suche doch nur mein Gebiss!

Die Aussicht ist mir pillepalle!“

 

Von Weitem kommt Liane an.

Sie will mit den verdienten Scheinen

in die Boutique, dann zum Kaplan

und bei ihm über Sünden weinen.

 

Der Rudi fürchtet ihre Hähme;

versteckt sich hinterm Lindenbaum.

Da lacht sie und hält hoch die Zähne.

Der Ärmste schämt sich – freut sich kaum.

 

Abgemäht ist Jochens´ Rasen.

Er sehnt sich längst nach einem Bier

und hüpft wie alle alten Hasen

in sein heimisches Revier.

 

Ute krächzt: „ Ihr Kids, kommt her!“

Sie verteilt die Schokolade.

Das Geschrei wird immer mehr;

doch der Ute niemals Plage.

 

Ingrid mag nun nicht mehr singen,

weil der Liebste sie nicht hört.

Nächstens wird sie Hüften schwingen -

ob ihn das dann mal betört?

 

Nur der Ralph sitzt still und leise -

träumt sich sehnsuchtsvoll zur Küste

und genießt auf seine Weise.

Ach, wenn er doch Eines wüsste....

 

 

(c) Ralph Bruse

Bis zur Dämmerung

 

 

Heute fühlt sich der Tag so leicht an, dass man ihn am liebsten ein-

fangen möchte mit all seiner Helle, seinem Duft und den warmen  

Farben des Spätsommers.

Mona zieht mit all ihren Erinnerungen durch die Gassen der Stadt,  

in der sie fünfzig Jahre zuhause war.

Das kleine Cafe´an der Ecke zum Stadtpark gibt es immer noch.  

So manches Mal saß sie da mit klopfendem Herzen; verliebt in wen?  

In einen Mann – in die Jugend – ins Leben?

Sie betritt das Lokal und nimmt hinten an dem Tisch Platz, an dem  

sie so gern gesessen hat und von dem aus man alles überblicken kann.  

Die Menschen hier, das Treiben an der Theke und die Leute, die vorü-

bergehen.

Der Kellner bringt den heißen Cappuccino mit einem Herzchen aus  

Milchschaum obendrauf und daneben in einem kleinen Glas eine Ku-

gel Karamelleis. Prämiert!, betont er freudig.

Unwillkürlich denkt sie an Jens, den Sohn eines befreundeten Ehe-

paares, der sie hierher zum Eis einlud, als er seinen Führerschein be-

standen hatte. Das war ein Geheimnis zwischen ihnen, weil seine Mut-

ter immer ein bisschen eifersüchtig auf die Freundin war.  

Jens ging mit seinen Sorgen oder wenn er Rat wollte, immer zu Mona  

und ihrem damaligen Mann; dort fühlte er sich verstanden. Auch sei-

ne erste Freundin stellte er ihnen vor, bevor seine Eltern sie kennen-

lernten. Einmal rief er Mona an und bat sie um Hilfe, weil die U-Bahn  

einen Gleisunfall hatte und nicht weiterfuhr. Sie holte ihn ab und über-

ließ ihm das Steuer ihres kleinen Flitzers. Glücklich über diese unerwar-

tete Spritztour gestand er ihr seine Gefühle. Er war 19 und sie 33…

…. behutsam und ein wenig geschmeichelt lächelte sie ihn an und er-

zählte ihm von den vielen jungen Mädchen, die nur darauf warteten,  

solch einen gutaussehenden und netten jungen Mann kennenzulernen.  

In der darauf folgenden Zeit zog sie sich immer öfter zurück, um seine  

Gefühle nicht noch zu verstärken. Sie fühlte sich in dieser Zeit be-

schwingt und ihr Umfeld profitierte von dieser Fröhlichkeit.

 

Was wohl aus Jens geworden ist? Durch ihren Umzug in eine andere  

Stadt und durch ein erfülltes und turbulentes Leben hat sie den Kontakt  

zu ihm verloren.

Am Tisch nebenan entwickelt sich eine lautstarke Diskussion um die be-

vorstehenden Wahlen. Sie blättert in der kleinen Speisekarte, als ihr Han-

dy klingelt. Sie stellt es ab, weil es ihr unangenehm ist, im Lokal zu telefo-

nieren. Sie hasst es auch, anderen ungewollt zuhören zu müssen.

„ Ist der Platz bei Ihnen noch frei?“ Ein Mann um die Fünfzig oder Sech-

zig steht vor ihr und lächelt sie freundlich an. Silberfäden ziehen sich  

durch sein dunkles Haar und sie erspürt seine Aura. Irgendwie hat sie

das Gefühl, ihm schon mal begegnet zu sein...Hier?

Sie überlegt.

Er setzt sich, bestellt Kaffee schwarz. Schaut sie an, immer noch freund-

lich lächelnd.  

Dann fällt bei ihr der Groschen...Der freundliche Mann, ihr gegenüber,  

lief ihr heute schon mal über den Weg. Vor einer Stunde, etwa, als sie  

durch die Ortsgassen schlenderte, in Gedanken versunken, rempelte er

sie versehentlich leicht an, weil er offenbar auch Erinnerungen mit die-

sem Ort verband und darin zu sehr versunken war.

Er bat knapp um Verzeihung und lief dann auch schon weiter. Nur kurz

haben sie eindringlichere Blicke wechseln können.

Und nun saß er hier – sie beide – tranken Kaffee und Cappuccino.  Spra-

chen kaum, sahen sich an. Lächelten sich zu. Er beugte sich etwas vor,

wollte ihre Hand ergreifen. Sie erschrak etwas, zog die Hand zurück.  

Eher unabsichtlich, wie sie sich selbst im Innersten eingestehen mußte.

> Würden Sie mich nachher noch ein Stück des Weges begleiten?, <

entfuhr es ihr. Sie hätte sich ohrfeigen können...! Was war nur mit ihr,

daß sie sich einem Wildfremden so bedingungslos anvertraute?

> Gern, < antwortete er. > Wenn Sie dem Fremden Ihr Vertrauen schen-

ken möchten...<

Sollte er etwa auch ihre Gedanken lesen können?

Sie vertraut ihm – das wusste sie von dem Augenblick an, als er hier

herein kam.

 

Sie tranken aus, bezahlten und sie hakte sich bei ihm ein. Wieder

schossen ihr Worte, wie: Warum, Weshalb...Verrückt, Fremder, Seelen-

verwandter...hinter der Stirn umher. Dennoch gingen sie nun nebenein-

ander, als sei es das Normalste der Welt, den Fremden als  Freund zu se-

hen – wie einen Freund, bei dem der Blitz einschlug –  bei ihm und bei

ihr.

Noch immer sprachen sie nicht viel. Spazierten seelenruhig durch schma-

le, schön wieder hergerichtete Gassen mit alten, geduckt aussehenden

Fachwerkhäusern.  

 

Es dunkelte allmählich und die Straßenlampen warfen gelbliche

Lichtkegel auf glitzernde Kopfsteine unter ihren Füßen. Da, wo die Lich-

ter nicht hinreichten - an einem sanft gurgelnden Brunnen  in Marktnähe –

dort zog es sie zueinander hin. Sie küssten sich –  nicht mal ihre Namen

wissend. Sie spürten sich, umschlangen einander fester, strichen sich alle

Zweifel und ein einige Haarsträhnen  aus Stirn und von den Mündern.

 

Im Park kappten die Vögel leise ihre Schnäbel, und schwiegen dann.

Die Bank, auf die sie sich niederließen, knarrte bedrohlich. Sie lachten

und die anfängliche Scheu streichelten sie sich weg; streiften nach und  

nach ihre Kleider ab, küssten sich abermals. Finger und Hände strichen

unendlich geduldig auf und nieder, bis es ganz dunkelte und sie dem Be-

gehren nachgaben - unten, auf dem noch warmen Wiesenboden, neben

der schiefen Bank.

 

Als der Halbmond in kühler Frühe verblasste und die Glocken des Kirch-

turms anschlugen, kleideten sie sich an und gingen dahin zurück, wo all

das Früher nicht mehr von sehr großer Bedeutung war.

 

Später, im Cafe´, am Stadtpark tranken sie Kaffee schwarz und Cappuc-

cino. Sie spürten das Leben und den herrlich warmen Spätsommertag.

Ein über lange Zeit schlummerndes Sehnen hatte sich erfüllt. Ohne lei-

sestes Missverstehen und mit befreiendem Lächeln trennten sich  ihre

Wege.

 

Vielleicht bis zum Morgen des anderen Tages, an einem anderen Ort....

Irgendwo.

 

 

(c) Ralph Bruse

Feierabend

 

> Träum nicht soviel!, < rief Henning herüber.
Sein Lachen brach auf.
> Versteh schon...Die Inge...Na klar. Ist aber auch ein Klasse-Weib. Reh-
augen, Brüste wie Äppel, Prachtarsch. Alles am rechten Platz. Gibts nix
dran zu meckern. <
Hans sah kurz auf, lächelte schüchtern, schrubbte dann weiter, bis das
hölzerne Kutterdeck blitzeblank war. Inge....er sehnte sich nach ihr, sah
sie überall, blickte sie nur an – und ging in ihr unter. Drei, vier Kisten
voller Fisch brachte er ihr in die Fischhalle mit Imbiss. Meist kurz nach
achtzehn Uhr. Dann bereitete sie ihm die besten Bratkartoffeln der Welt
zu - ohne Speck, dafür viel Zwiebel, in Öl und Curry gedünstet, legte den
herrlich riechenden Fisch aus der Pfanne obenauf und nahm sich selbst
was von allem.

 

Sie aßen fast wortlos, brauchten nur ihre Augen, um einander zu verstehn;
sie strich ihm das verschwitzte, vom Seewind zerzauste Haar glatt, sah sich
um. Kurz vor Feierabend. Die Urlauber im Küstenort saßen zum Abendes-
sen in ihren Pensionen, oder Hotels. Um die Zeit sind sie beide hier meist
allein – nur sie und er. Diese wenigen Minuten kosten sie bis zur bitteren
Neige aus. Inge kommt dann noch näher, küsst ihm die Wange. Hans errö-
tet regelmäßig, hält aber - irgendwie auch beruhigt - ganz still. Sie moch-
ten einander – sehr sogar. Hans lebt noch bei seiner etwas mürrischen, al-
tersschwachen Mutter. Inge bei ihrem rabiaten Mann, nur drei Straßen
weiter. Sie ist froh, wenn sie morgens in die Fischbude kommt und Frie-
der, ihr launischer Gatte, in die entgegengesetzte Richtung verschwindet.
Er sitzt tagsüber im Rathaus - im Bauamt – bestimmt, wer im Ferienort
Häuser nach penibler Vorgabe hochziehen darf, und wer nicht. Punkt vier
Uhr nachmittags schließt er die Rathaustür hinter sich, läuft wie vom Teu-
fel getrieben zur Klause, um die Ecke und trifft sich dort mit Leuten seines
Schlags, denen ähnlich viel Macht im Ort gegeben ist. Sie trinken, besaufen
sich bis tief in die Nacht. Frieder schleppt des öfteren eine Amts-Sekretärin
ab, zum Hafen, wo er sie torkelnd im Schutz der Nacht vögelt – soweit noch
möglich, denn er weiß am nächsten Morgen meist nicht mehr namentlich,
wer sich letzte Nacht über den eisernen Poller beugte, um sich vögeln zu
lassen.
Er kam oft erst nach Mitternacht zu Hause an, warf dann trudelnd sämtli-
ches Kleinmobiliar um, zog Inge heroisch brüllend an den Beinen vom
Bett, beschimpfte sie übelst und ließ die Fäuste auf sie niederfliegen.
Jemand im Rathaus hatte inzwischen verpfiffen, daß dauernd der immer-
gleiche Kerl in der Fischbude auftaucht, den sie offenbar anhimmelt – und
der sie wohl auch. Das wurmte Frieder kolossal. Seine Ehre stand schließ-

lich auch auf dem Spiel....Inges´ Martyrium begann, steigerte sich von Tag

zu Tag und von Nacht zu Nacht.

Nun saßen sie dicht nebeneinander - aßen schweigend. Inge küsste ihm
abermals die Wange; versuchte ein Lächeln, aber ihr rannen stattdessen
plötzlich Tränen übers Gesicht. Sein Herz krampfte sich zusammen.
Ihre schönen, großen Augen waren dickgeschlagen. An ihren Unterarmen
wimmelte es von grünblauen Flecken und Striemen.
Lange fiel kein Wort. Es war kurz nach achtzehn Uhr.
Hans hielt die laute Stille nicht länger aus. Hatte endlich den Mut zu sa-
gen, was er für richtig hielt.
> Ich bring´ ihn um! <
Ihre Hand schnellte vor; verschloss ihm den Mund.


Etwa vier Stunden später:

Frieder wankte sturzbetrunken aus seiner Stammkneipe – die dralle,
ständig kichernde Sekretärin Lisa vom Grundbuchamt im Arm. Beide
trudelten vor, in Richtung Hafen – dahin, wo die Anlegestelle für Boo-
te und Fischkutter endet und wo das letzte Laternenlicht gerade noch
hinkommt: flackernd und kurz vor gänzlichem Ausfall.
Ungeschickt fummelte er an seinem Hosenstall, um schnell über sie
herzufallen. Schwankend und schwitzend zerrte er sie zu sich und ver-
suchte vergeblich, sich ihrem knallroten Mund zu nähern. Als er sie
küssen wollte, roch sie seinen nach Schnaps stinkenden Atem mehr
denn je: angeekelt stieß sie ihn heftig von sich. Er stolperte und lande-
te in nassem Sand. Schnaubend ergriff er eine Handvoll, richtete sich
auf und schmierte es wutentbrannt in ihr grell geschminktes Gesicht.
Lisa krallte sich in seine Schulter, was sein Blut noch stärker in Wal-
lung brachte. Wutentbrannt und schweißtriefend stürzte er sich über
sie und erschrak, als sich ein wildes Flackern der Laterne fratzengleich
in ihr Gesicht schwang.
Plötzlich erlosch das Licht. Ein dumpfer Aufprall. Wasser spritzte mit
voller Wucht die Mole hoch.
Kein Mensch zu sehen.
Nur Dunkelheit und laute Stille im nachtschwarzen Hafen.


Als sie am anderen Morgen mit dem Kutter rausfuhren, winkte Inge
ihm vom Ufer aus nach. Hans strahlte mit der aufgehenden Sonne um
die Wette. Er war ein völlig anderer: fühlte sich gelöst und frei.
Henning manövrierte den Kutter mehrmals im Kreis, ehe sie in Rich-

tung offene See davon rauschten. Vom Toten im Hafenbecken war nichts

mehr zu sehen.
Henning und Hans sahen sich kurz an. Wenn man jahrelang zu zweit, da
draußen, auf dem Meer ist, versteht man sich irgendwann auch ohne viel
Tamtam und Worte. Etwas maulfaul wurden sie schon mit der Zeit. Aber

nicht zum eigenen Schaden. Man hilft – und schweigt.


© Ralph Bruse

Shadow – bei dir war es Liebe


Die grellen Neonlichter blitzen in den Raum.
Dort draußen torkeln Menschen aus der Bar.
Schrilles Gelächter stört Sie kaum.
Zur späten Stunde sieht sie nicht mehr klar.

Seit Tagen ist sie hier des Nachts zu Gast.
Ein schäbiges Hotel, doch das ist ihr egal.
Sie muss ihn finden, unerkannt und ohne Hast -
der Wein betäubt und lindert ihre Qual.

Im Fenster spiegelt sich ihr trüber Blick,
mit dunklen Schatten unter müden Augen.
Was war das eben – sein vertrauter Schritt
im Flattern aufgescheuchter Tauben?

Die Kerle nahm sie, wie sie fielen.
Ein Spielen war es nur,
um sich im Finstren gut zu fühlen.
Da ist doch was im Flur …

Sie wirft den anderen hinaus.
Sitzt da, im stillen Zimmer.
Kein Laut hallt durch das Gästehaus.
Nur Stille, wie nachts immer.

Doch dort, die Tür, die sie verschlossen,
schwingt auf. Er steht im Licht...
Kommt nah und näher unverdrossen -
versteinert das Gesicht.

Sie setzt sich kerzengrade auf;
weint leise, sagt: ´Verzeih.
Die andren hatten mich zum Kauf
und sind mir einerlei.
Du nicht.´

Er sieht nur sie. Spricht auch kein Wort,
das sie würde verstehen.
Sehr viel später war er fort -
winkte ihr noch im Gehen.

Den Wein geleert. Im Winde wehend,
findet sie sich am Grabe stehend.


© Ralph Bruse

Ein Meter-Mann
(Die Kornblume)


Ihr leichtes, rotes Seidenkleid,
raubte mir alle Sinne.
So sprach ich dann zur Abendzeit
mit unhörbarer Stimme:

Du träumst recht oft auf dünnem Stiel.
Und: gib nur Acht – dort oben
zieht Regen auf – er wird zuviel
in deinem Hauch von Kleide toben.

Schon stürmten dunkle Wolken an,
mit rauschend schwerem Regen.
Riss ihr am zarten Kleide dann
und wollt´ sie gänzlich niederfegen.

Da spannte ich die blaue Blüte,
ganz weit über sie hin,
daß sie beschützt sich fand in Güte,
Obwohl dann selbst zu schwer ich bin.

Beladen von der kühlen Nässe,
die mich fast überrannte,
stand ich erst tapfer – dann in Blässe,
weil sie mich Mein Retter! nannte.

 

                             *

Ein  Blatt vom Kleid verlor sie doch.
Weil: sie umschlang mich heftig noch.

 

Worte und Foto: © Ralph Bruse

Der Mann am Bahnsteig


Seit einer Stunde wartet sie hier am Bahnsteig bei drückender Schwüle. 
Seit Wochen kein Regen. Ihr leichtes Sommerkleid klebt ihr an der feuch-
ten Haut.
Der Zug hat Verspätung. Zeit der Ankunft: ungewiss.
Sie schlendert immer wieder an den Gleisen entlang. Marode, alles hier.
Ein Bahnhof, der Fremde nicht willkommen heißt. Jeden Moment fällt ihr
Blick zur Uhr. Nichts, gar nichts….
In der Tasche findet sie noch die Brezel von heute Morgen. Sie knabbert
daran – unkonzentriert – nur, um die Nervosität zu lindern. Strohtrocken
und geschmacklos. Überflüssiger Snack.
Die wenigen Menschen hier bewegen sich träge und misslaunig in der sen-
genden Hitze.

Endlich nähert sich der Zug. Ihr Herz pocht bis zum Hals. Wild, zum Zer-
springen.
Einige Leute steigen aus. Dort, der große Mann mit leicht ergrautem Haar,
das ist er…
Zögernd kommt er näher. Sein Blick streift sie kurz - und doch lange genug.
Erst widerstrebend, dann wie ein Getriebener, steigt er die Treppen hinun-
ter zum Ausgang.
Unschlüssig sieht sie sich wieder um – niemand hier, der abgeholt werden
möchte - oder ihr nicht begegnen kann, weil die plötzliche Unsicherheit zu
groß wurde.
Soll sie den nächsten Zug noch abwarten?
Der Unbekannte, der ausgestiegen war, sah ihm, den sie nur vom Foto
kennt, sehr ähnlich. Sie wischt sich Schweiss von der Stirn - überlegt an-
gestrengt.

2.
Lüder wartet in einer Nische der Bahnhofsmission auf sie. Er ist wie der
lange Schatten, in dem er minutenlang unruhig verharrt.
Da - sie geht vorbei. Wirkt verloren, mit weitvornüber gebeugtem Kopf
und müde hängenden Schultern. Die Schritte zögernd, ihr Blick abwesend;
wankt durch enge Menschenmassen, die ameisengleich hier - und dahin
streben.
Sie schaut - einer Eingebung folgend - genau dorthin, wo er steht...Lüder
zuckt zusammen; drückt sich tiefer ins Halbdunkel. Zu spät. Sie sieht und
erkennt ihn. Das Foto, das er schickte, ist über zehn Jahre alt - aber er ist
es, den sie am Gleis erwartete. Ganz sicher ist sie sich jetzt.

Alle klaren Sinne stürzen ein...Er stürmt vorwärts, rennt sie um. Sie fällt zu
Boden - ruft im Fallen noch seinen Namen. Er will ihr aufhelfen - würde al-
les geben, ihr hochzuhelfen! Rennt aber weiter, immer weiter - weg von hier,
weg von ihr, Richtung Innenstadt.
Am Marktbrunnen hält er schnaufend inne, klatscht sich mit zitternden Hän-
den Wasserfontänen ins Gesicht, in den schweissglänzenden Nacken, reisst
sich das T-Shirt runter, zieht es hastig durch die gelblich lauwarme Brühe
und kriecht wieder hinein. Sinkt auf einer Bank in sich zusammen. Dort sitzt
schon ein uralter, geplündert aussehender Mann. Und schwatzt, hocherfreut
über die erhoffte Gesellschaft sofort los, wie ein Maschinengewehr, während
Lüder noch immer nach Luft ringt.
Also weiter. Anderswohin.
Irgendwann findet er endlich einen ruhigen Platz im Parkschatten mächti-
ger Eichen. Er atmet tief ein und aus, sitzt dann lange still da. Aber in ihm
wüten Großfeuer.

3.
Sie sitzt am Küchentisch. Isst kaum. Das Foto von ihm gleich neben dem
Teller. Sie sieht es an. Immer wieder. Steht auf, nimmt das Bild in beiden
Händen mit. Läuft hin - und her. Bleibt schließlich am Fenster stehen, sieht
raus, in die anbrechende, schwüle Sommernacht. Hinab, zur Straße. Im
Lichtkegel der aufflackernden, einzigen Laterne steht ein Mann. Er starrt
nach oben. Genau in ihr Fenster. In ihr Gesicht. Mitten in die Augen...
Zunächst ist ihr Schreck heftig. Sie entflieht seinen Blicken. Ein, zwei Schrit-
te zurück...Dann lässt die Furcht jedoch nach. Wieder zwei Schritte vor...
Niemand mehr dort draußen. Er ist fort.

4.
Lange bohrten sich seine Blicke in ihre. Lüder stand unter ihrem Fenster,
als wolle er Abschied nehmen: schwer waren ihm Beine, Kopf - und Herz.
Die Augen schwammen in Tränen. Sie sah ihn - aber nicht so, wie er ist. Das
konnte sie auch nicht aus naher Ferne.

Schließlich ging er davon. Zog ihr Bild aus der hinteren Jeanstasche, strich
zärtlich darüber hin und zog es an seine Brust. Darin war alles dunkel, wie
die Nacht, da draußen.

Tage danach schrieb er ihr per E-Mail:

Das lange Einsamsein hat einen anderen aus mir gemacht.
Verzeih.


Erzählung: (c) Ralph Bruse

Grafik: open cliparts

Maimorgen

 

 

Angefüllt ist nun das Land
mit warmer, heller, blauer Luft.
Und streift die Hand das Blumenmeer,
umweht die Nase Duft um Duft.

Am Birnbaum stürmen Schmetterlinge
mit Bienen um die Wette,
als ginge es um Wunderdinge,
die das Kleinvolk gerne hätte.

Der Storch - nah bei - im hohen Gras,
stolziert gemächlich drein.
Irgendwann später nimmt er Maß:
den kleinen Frosch in Augenschein.

Am Wiesenbach, da sitzen zwei,
wie du und ich im Grunde.
Sie schlecken an dem Schoko-Ei,
genüsslich, wie aus einem Munde.

Sanfter Windhauch streift ihr Haar;
tanzt auch in ihrem bunten Kleid.
Laut lachend springt das junge Paar
umher in Unbefangenheit.

Löwenzahn protzt satt in Gelb
im Wettstreit mit dem Himmelblau.
Der Mohn versteckt sich noch im Feld –
erwacht schon bald im Morgentau.

Der Silberreiher sieht von oben
dem frohen Maientanze zu.
Dann fliegt er weg in hohem Bogen –
lässt das verliebte Paar in Ruh´.

Was bleibt: das Zirpen einer Grille,
in endlos großer Morgenstille.


Gedicht & Foto: © Ralph Bruse

Schattenfunkeln

 

 

Im dichten Nebel eingefangen,

ohne Sicht und ohne Ziel -

nur dieses brennende Verlangen

bohrt sich in ihr Gedankenspiel.

 

Und ihre Haut beginnt zu beben.

Ihr heißer Körper will zerspringen.

Liebe fern aller Schranken leben -

mahnendes Hirngespinst bezwingen.

 

Die Haare feucht von Nebelschwaden

kräuseln sich um ihr Gesicht

Bedenken tümmeln sich im Magen,

doch Liebe hinterfragt man nicht....

 

Sie kennt nur reinstes Tiefgefühl.

In Schmerz gespürtes Glück.

Kennt keine Zeit – nur Herzgewühl,

das rauschend flieht – und kehrt zurück.

 

Der Tag fällt hin. Schleppt sich ins Dunkel.

Sie sinkt in schweres Wollen.

An ihrer Haut, das Schattenfunkeln

sind Küsse, die sie stillen sollen.

 

Dem nahen Himmel niemals fern,

verliert sie ihre Spur.

Hell schimmernd stehen Mond und Stern

schützend im Finstren nur.

 

 

(c) Ralph Bruse

Nachtklänge

 

 

Sie sitzt in ihrer Schneiderei

inmitten alter Kleider,

deren Zeiten längst vorbei

und niemand holt sie – leider.

 

Dennoch hockt sie bis zur Nacht

in jenem kleinen Laden.

Hört, wie draußen jemand lacht -

reibt sich die beinah tauben Waden.

 

Versucht ein Lächeln, das schon stirbt,

eh es sich öffnen kann.

Der Apfel, auf dem Tisch, verdirbt.

Sie sieht ihn nicht mal an.

 

Ihr Brot, daneben, lässt sie liegen.

Der Schwarztee ist längst kalt.

Die Kraft zum Aufstehn will verfliegen,

verlässt sie sicher gänzlich bald.

 

Sie schafft es bis zum Fensterglas.

Kühlt daran ihre heiße Stirn;

greift schwankend nach dem Metermaß

und beugt sich wieder tief zum Zwirn.

 

Es wird Nacht – und Doris nickt

erschöpft im krummen Sitzen ein;

sieht nicht im Fenster das Gesicht,

das schon länger schaut herein.

 

2.

Den Tag lang schon stand Börge hier

am Marktplatz – spielte Lieder.

Er suchte sich ein Schlafquartier:

vergebens, wie oft wieder.

 

So kam er frierend an ihr Haus,

das abseits sich ins Dunkel duckt.

Dort scheint ein schwaches Licht heraus,

das mal erlischt und mal hell zuckt.

 

Im Lichtschein, jene Schneiderin...

sie schläft ganz schief und krumm

auf ihrem Stuhl. Lang sieht er hin -

verharrend bleibt er stumm.

 

Dann nimmt er allen Mut zusammen,

klopft zaghaft an die Scheibe.

Möge sie ihn gleich verdammen:

er bittet nur um kurze Bleibe.

 

Sie rührt sich – doch sie hört ihn nicht.

Er greift zur alten Geige.

Spielt zitternd in gebrochnem Licht

fünf Lieder bis zur Neige.

 

Sie dreht sich langsam hin zu ihm -

erschrocken erst, doch dann erstaunt.

Er sieht, wie ihre Ängste fliehn,

sie leise Worte zu sich raunt.

 

Verlegen streicht sie durch ihr Haar,

streckt den gekrümmten Körper lang.

Die Augen leuchten hell und klar -

ergriffen von dem Geigenklang.

 

Börges schmale Finger gleiten,

fast zärtlich und mit viel Geschick.

Er bringt ihr längst vergang´ne Zeiten

in das triste Heim zurück.

 

Lächelnd öffnet sie die Türen,

bietet ihm ein Bett zur Nacht.

Einmal wieder Leben spüren.

Hat Zufall ihn hierher gebracht?

 

3.

....Die Straße riss ihn wieder fort -

doch Liebe fand er nirgends dort:

wie einst hier,

bei ihr.

Ballade: (c) Ralph Bruse

Grafik: open cliparts

     Christine

       Ralph

       Heike

  unbekannter Maler

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