Der Hühnergott

 

 

Die sanfte Ebene vor dem Zugfenster trägt seine Unruhe fort.

Sein Kopf taumelt ein paarmal hin - und her. Dann fällt Ole in 

einen leichten Schlaf. Er träumt wirr.

 

> ....schwöre ich, Ole Sander, den Hühnergott immer mit mir zu 

tragen; was auch kommen mag. <

Linda saß neben ihm im nassen Sand. Sie rollte den schwarzweiss

gefleckten Stein in ihren Händen; kicherte ausgelassen.

Ganz plötzlich verstummte ihr Kichern. Sie hob den fingernagelgro-

ßen Stein an ihre Augen; blinzelte durch das winzige Loch, in der

Mitte.

> Das schwöre ich auch, so wahr ich Linda Raven heiße. <

Die Feierlichkeit des Augenblicks schien ihnen sehr wichtig zu sein.

Ole befreite einen Schnürsenkel seiner Turnschuhe; zog beide Stei-

ne auf die Schnur. Er beugte sich zu Linda herüber; schlang das Zei-

chen immerwährender Freundschaft um ihren Hals.

Die Hände fanden einander. Von der See her blies ein kühler Wind

in ihre dünnen Kleider. Der Strand war menschenleer. Linda warf

den Kopf zurück; blickte Ole fordernd an. > Jetzt musst du mich 

küssen, damit unser Versprechen auch hält! <

Er zögerte. Geküsst hatte er Linda noch kein einziges Mal.

> So richtig?, < stotterte er, während sich seine Augen weiteten.

> Was denkst du denn. Sonst wirkt der Schwur ja nicht! <

> Wenn du meinst. <

> Mein’ ich. <

Er setzte sich vor sie in Positur. Zaghaft nahm er ihren Kopf zwi-

schen seine Hände - so scheu, als hätte er keinerlei Zweifel, Linda

würde ihm gleich eine scheuern, weil er vom Küssen noch nichts

versteht.

Aber Linda ist überaus geduldig. Sie spitzt die Lippen, schließt die

Augen - nicht ganz - offenbar, um sich an seinem hilflosen Tun zu

weiden. Ihre langen Wimpern zittern, als sich seine Lippen nähern.

Dann ist es auch schon vorbei. Das erwartete Herzknistern bleibt 

aus. Immerhin schmeckt sein Kuss angenehm nach Pfefferminz, 

weil er gerade erst seinen Bonbon zerkaute.

Zweiter Versuch. Linda wagt mehr. Ihre Zunge tänzelt kolibriähn-

lich in seiner vorderen Zahngegend umher. Er schnappt schließlich

danach; verjagt den eindringenden ‘Vogel’ - nicht wirklich, nur 

zum Schein. 

So geht ihr Spiel eine ganze Weile.

Sie öffnen die Münder ganz weit; drängen vor, weichen zurück - die

Zungen jagen einander. Aus den Mundwinkeln seilen sich Rinnsale

aus Spucke ab.

 

Erst lange später lassen sie voneinander; fallen hintenüber, in den

Sand. Die großen, träumenden Augen spazieren am dunkelblauen

Himmel lang. Welch herrlicher Tag!

Lindas’ Kichern. > Du küsst wie ‘ne sabbernde Dogge, < zieht sie

ihn auf; stößt munter die nackten Füße in seine Rippen.

Er zieht kräftig an ihrem geblümten Kleid - bis es reisst. Eine blass-

rote Brustwarze ist auf bestem Wege, öffentlich aufzutreten. 

Schließlich rutscht die kleine Brust gänzlich ins Freie. Oles’ Lachen

verstummt. In seinem Gesicht zieht Röte auf. Und Neugier. 

Linda ist deutlich gelassener. In ihren Augen blitzen lauter geheim-

nisvolle Lichtpunkte.

Ole knöpft sein Hemd auf; legt es ihr sanft um die schmalen Schul-

tern. Ihr Lachen - wie hell es klingt. Sie rücken wieder näher zuein-

ander. Der sinkende Tag am Meer ruft lautlos die Nacht herein.

 

2.

Der alte Mann erwacht.

Wie gern wär er wieder reingekrochen, in den oft wiederkehrenden

Traum. Der Lärm im Zugabteil jedoch lässt dies nicht zu.

Ole seufzt. Träge tasten die Blicke verschleierter Augen umher.

Feierabendzeit. Leute strömen hinaus. Andere steigen zu; flegeln

sich mehr oder minder gelangweilt auf harten Bänken. Manche le-

sen in einer Zeitung, andere reden eher lustlos mit dem Sitznach-

barn. Nirgendwo ein Lachen. Schade.

Ole greift in seine Hemdtasche. Da ist er...der fingernagelgroße 

Hühnergott, und mittlings, das Loch - er blinzelt hindurch - sein Lä-

cheln war lange nicht so frei. Vielleicht ist es meschugge, den Stein

all die Jahre lang aufzubewahren; ihn überall hin mitzunehmen. Im-

mer ist das ‘dritte Auge’ bei ihm - anfangs in der Hosentasche, spä-

ter dann in der Geldbörse, und neuerdings in den Brusttaschen sei-

ner Hemden - nah am Herzen - und das ist gut so, findet er.

Nun ist die Zeit des Wartens vorbei. Eigentlich ist es längst zu spät

für solche spinnerten Anwandlungen. Schließlich ist Ole ein alter

Mann und außerdem wackelig auf seinen Beinen. Nein, es ist nicht

vernünftig, in Lindas’ Privatsphäre herumzuschnüffeln.

Zum Teufel mit der Vernunft! Er muß wissen, ob alles so ist, wie 

sie es in ihren wenigen, aber regelmäßigen Briefen schrieb.

Noch zwei Stationen.

 

In Mommark verlässt er den Zug. Der graue Bahnsteig: leer und 

trostlos.

Die Unruhe kommt zurück. Ole gibt sich den nötigen Ruck; zockelt

vor, zum Ausgang. Er schnauft bei jedem Schritt. Umkehr ist aus-

geschlossen; also geht er weiter; immer weiter...Bis er vor ihrem

Haus steht.

Ein hübsches Haus, findet er. Zweistöckig. Oben Gardinen an den

Fenstern. Unten nicht. Im Garten, davor, prahlen bunte Herbstblu-

men um die Wette. Ein geduckt dastehender Apfelbaum wirft über-

reife Früchte zur Erde. Der schmale Weg von der Gartenpforte zur

Haustür ist mit hellem Sand aufgeschüttet. Seesand - davon gibt es

allemal genug. Das Meer ist praktischerweise fast gleich um die

Ecke. Er öffnet das Gartentor; geht schleppend; fast atemlos vor, 

ans Haus.

Das Knirschen seiner Schritte im Sand schmerzt ihn - trotz aller 

Vertrautheit. Es erinnert ihn jäh an hier verlebte Kindertage. Es rüt-

telt alles Gesprochene und auch Unausgesprochenes, alle Träume

und Wirklichkeiten wach. Er sieht die Haustür auf sich zukommen,

und er sieht die rauhe See, keine hundert Meter dahinter, auf sich

zustürmen - sieht Linda am Ufer...erkennt sich selbst, neben ihr...

Wie kann es sein, daß nach einem halben Jahrhundert noch alles

haarklein durch Augen und alle Sinne flirrt? Kann ein Versprechen;

ein Schwur, der einst mit Winden davonflog, so stark sein, daß er

alle Stürme des Lebens überdauert?

 > Wir waren doch Kinder...Voller Leichtsinn. <

Seine Kehle schnürt sich zu. Zögernd hebt er die Hand. Dann klopft

er an die Haustür.

Ein Mann, Mitte Vierzig, öffnet ihm. Ole zwingt sich zur Ruhe; sagt

heiser: > Ich bin ein Freund von Frau Raven und würde gern... <

Der Mann im Türrahmen schneidet ihm die Worte ab.

> Die is’ tot. Is’ letzte Woche gestorben, < sagt er ziemlich schroff.

Plötzlich lichtet sich seine eher finstere Miene.

> Sind Sie nich’ der Bruder von Frau Raven? <

> Bin ich, < schwindelt Ole.

Der Mann ist schlagartig ein anderer - beinah ein Bild von einem

netten Menschen. > Wenn das so is’... Denn mal rein, in die gute

Stube! < 

Er klopft Ole ins Kreuz. > Ich bin hier der Hausverwalter. Muß in

dem Durcheinander erstmal wieder Ordnung schaffen. Soll ja wei-

ter vermietet werden, die Wohnung...War’n auch schon ein paar

Interessenten da. Aber, wie gesagt, das Chaos hier muß erstmal

weg. <

Er schiebt Ole vor sich her, ins kleine Wohnzimmer, nebenan.

> Nu’ sehn se sich mal das Gewühl an! < 

Er breitet gebieterisch seine Arme aus. > Is’ ja nich’ zu fassen! <

Ole steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Überall Papiersta-

pel; dazwischen wahllos umherfleuchende Papierfetzen, grünliche

Brotreste. Schimmelbefall überall. Möbelstücke, die aussehen, als

würden sie bei der nächsten Berührung zerfallen. Auf der Fenster-

bank umgekippte Blumentöpfe. Ihr verdorrter Inhalt verteilt sich 

auf dem löchrigen Uraltteppich. Inseln aus Papier; dazwischen 

Dreck und Schimmel. Kataloge, Brieffetzen - weisse, vergilbte -

einige von Hand beschrieben und von Fliegenheerscharen besetzt. 

Es riecht nach Moder im Zimmer; nach vergehendem Leben; nach

Tod – auch den kann man riechen.

Das Atmen fällt Ole immer schwerer - nicht nur wegen der schlech-

ten Raumluft.

Der Hausverwalter klopft ihm abermals ins Kreuz. 

> Schwamm drüber...Sie könnten doch....also, nur wenn’s Ihnen

nichts ausmacht...’n bisschen Ordnung in die Bude bringen...Ihre

Schwester hat ja gehaust, wie...Na gut, Friede ihrer Asche. Jetzt 

sind Sie ja da. <

Ole hört ihm garnicht zu. Er bückt sich nach einem halb beschrie-

benen Blatt, direkt vor seinen Füßen. Die Worte darauf zu lesen, ist

ihm jetzt nicht möglich. Er braucht Sauerstoff; braucht Sonnenlicht,

das hier drinnen zeitlebens offenbar ausgesperrt wurde. Er will hier

weg, und doch muß er auch wissen, wie tief Linda ins Tal der 

Schwindeleien hinabstieg - ob die wenigen Briefe, die sie schrieb,

allesamt nur Lug und Trug waren.

So schnell es eben geht, sammelt er weitere Brieffetzen ein; stopft

alles in seine Taschen. Als er sich gerade schweratmend zur Tür

retten will, entdeckt er etwas, das alle Mühen wert ist, noch wenige

Momente ohne Frischluft auszuhalten...einen kleinen Gegenstand...

Kaum größer, als ein Fingernagel. Schwarzweiss schattiert...Der

Hühnergott! Er sinkt gänzlich hin; betastet den Stein mit zittrigen

Fingern. Nur ein sanftes Berühren. Den Stein aufzuheben, wagt er

nicht.

Er vergräbt das Gesicht in seinen Händen; weint leise vor sich hin.

Sein dünner Leib sackt zu Boden. Linda war nie wirklich glück-

lich - das weiß er jetzt. Und er hasst sich für all die verplemperten

Jahre - dafür, daß er ihren Briefen blind Glauben schenkte. Arm 

war ihr Leben. Arm an Freude. Und erbärmlich! Dabei schrieb sie,

daß es ihr gut gehe; daß sie glücklich verheiratet sei. Zwei schöne

Töchter würden das Haus zudem mit Leben erfüllen. Er solle sich

nur keine Sorgen machen. Alles wär gut.

 

Nichts war gut! Alles Lüge, oder Selbsttäuschung! Nach Einzel-

heiten braucht er garnicht erst zu fragen. Es gab weder Kinder, 

noch wirkliches Leben, in diesem Haus. Sie wollte nicht mittei-

len, daß sie einsam; offenbar auch krank war. Aber warum die-

ses eiserne Schweigen? 

W a r u m ?!

Das Zittern seiner Glieder wird übermächtig. Von weither kommt

die Stimme des Hausverwalters an sein Ohr. > Also, wenn Sie

mich fragen...nee, nichts gegen Ihre Schwester, weißgott nich’...

Aber ´n bisschen verdreht war sie schon...Hat dauernd irgendwel-

che Kataloge angefordert, aber nie was bestellt. Dauernd hat sie

Briefe geschrieben. Das war ‘ne echte Manie von ihr. Sogar an sich

selbst hat sie Briefe geschrieben! <

Er kichert vorsichtig. > Na ja, mich fragt ja keiner....Mit Verlaub,

aber normal is’ das nich’. <

Ole ballt wütend die Hände. > Wie können Sie es wagen, so über

Linda...! < 

Seine Stimme erstickt in Tränen. > Verschwinden Sie! Los, haun

Sie endlich ab!, < krächzt er gerade noch laut und deutlich genug.

Sein bebender Oberkörper schnellt hoch; schiebt sich vor, als wol-

le er angreifen.

> Ruhig Blut, alter Mann. Immer schön ruhig bleiben, < schnarrt

sein Gegenüber. > Bis nächste Woche ist die Bude picobello sau-

ber, nur daß das mal noch geklärt is’! Wenn nich’, fliegt der gan-

ze Krempel ins Feuer! <

Die Tür knallt ins Schloß.

Ole ist endlich allein.

Große Stille macht sich breit.

Zeit für Erinnerungen. Zeit für Trauer. Zeit für...?

Die Stille erdrückt ihn. Tränen versiegen.

Er geht. Unendlich müde schleppt er sich dahin.

 

Er nimmt den letzten Zug, zurück, nach Glückstadt. Im Abteil flip-

pen feixende Jungen und Mädchen umher. Sie pinschern um Klein-

geld. Wessen Münze der Schiebetür nah genug kommt, der gewinnt.

Ehe Ole den Zug verlässt, wirft er - eher mut - als - achtlos seinen 

Hühnergott ins Spiel der jungen Leute. Dann steigt er aus.

Eines der Mädchen läuft ihm nach; drückt ihm den Stein wieder in

die Hand. > Keine Ahnung, warum du den wegwirfst...Aber mach

das nie wieder, Mann! <

Warum nur dieses zornige Blitzen ihrer Augen?, fragt sich Ole. Sie 

ist eine Fremde; hat kein Recht, so mit ihm zu reden.

Oder doch?

Ihre Augen...Diese Augen hat er irgendwo schon mal gesehen.

 

Sie springt zurück, ins Abteil, reisst das Fenster herunter; winkt 

ihm und ruft: > Meine Großmutter, drüben in Mommark, hatte 

auch so einen! Hielt ihn immer in Ehren...! Niemals hätte sie 

ihn.....! <

Die letzten Worte holte der Wind.

 

 

 

(c) Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

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