Der Turm

 

 

Weit fliegt der Blick - weit ins windgekämmte Land. Das wo-

gende Gras schimmert dunkelblau. Hier der Deich, der fast

schnurgerade zum Himmel führt. Da hinten Salzwiesen, die

allein den Seevögeln gehören. Und dann nichts mehr, außer

einem Fetzen ruhendes Meer.

Ebbe.

Die Flut; wo bleibt die Flut? Irgendwann wird sie schon kom-

men; stumm, unmerklich, und mit ihr fahren die Fischer nach

Hause zurück. Doch jetzt herrscht große Stille.

Ein Tag im August. Der Wind wartet auf die Stunde seines Er-

wachens. Die Sonne brannte auch schon mal stärker.

Da oben, auf dem Deich, schiebt jemand sein Fahrrad.

Ein Mann?

Ja, es ist ein Mann; so um die dreißig, vielleicht auch mehr.

Was treibt er da oben?

Was soll er schon treiben. Nichts - er lässt sich treiben; spa-

ziert, weil er keine Eile hat. Vielleicht weiß er demzufolge auch

nicht, wohin er will. Oder doch?

Zur Landseite hin erhebt sich ein Turm. Die Einheimischen

nennen ihn ‘Ochsenturm’, weil er schief dasteht, wie ein krum-

mer Finger, der immer noch standhaft jedem Sturm trotzt -

stur wie ein Ochse eben. Der Turm ist die einzige Erhebung

weit und breit.

Wer will es dem Fremden verübeln, daß er sich wieder aufs

Rad schwingt, deichabwärts saust, eine Schar Schwalben im

Rücken; Richtung Turm. > Auf ihn! <

Die Fahrt wird immer schneller. Zwei Schwalben kreuzen über-

mütig seinen Weg, lassen ihn vor; überholen; zisch; wenden,

um das Spiel zu wiederholen. Der Mann jubelt im Rausch der

rasanten Fahrt; nur leider vertreibt sein Jubeln schließlich die

Schwalben. Nicht so schlimm, denn der Turm kommt näher,

wird größer; beinah erschreckend groß, und dann verstellt

der ‘krumme Finger’ ihm den Weg. Da, wo dieses Ungetüm von

einem Turm aufsteigt, ist der Weg zu Ende, und der Mann er-

wischt sich bei dem Gedanken, daß hier gar das Ende der Welt

sein muß, was ja beinah auch stimmt, weil die Gegend augen-

scheinlich an großer Einsamkeit stirbt.

Er überlegt schon, ob er umkehren soll - da sieht er eine jun-

ge, in sich vertiefte Frau, die zu Füßen des Turms das Grab

ihrer Verstorbenen pflegt. Zögernd geht er näher. Dann kann

er sehen, daß hangabwärts, unweit der Frau, weitere Grabstei-

ne aufragen. Die Steine sind brüchig; ihre Inschriften zum

Teil unlesbar.

Auf Friedhöfen zu wandeln ist sicher nicht Jedermanns Sache.

Aber hier, an diesem vergessenen Ort, fern jeder Siedlung, ab-

seits von Lärm und Zänkeleien; der Selbstfindung ganz nah -

da läuft man nicht einfach so weg, nur weil man ein Fremder

ist. Die Stille schlingert um den Turm, wacht über bleiche Grä-

ber, raunt vom Himmel und in Wiesen. Stumme Engel schweigen

auf moosigen Gräbern. Manche sind weiß; die Mehrheit aber ist

grau, rissig, ohne Arme, Köpfe, die der stramme Seewind wegriss.

So oder so - jeder Stein würde seine Geschichte erzählen; lie-

ße man sie nur. Jan Braase, zum Beispiel...Der ruht unter ei-

nem grobgemeißelten Speckstein, gleich neben der Turm-

mauer. Er war Wärter; der Wächter des Turms. Achtzig ist er

geworden. Von diesen achtzig Jahren war er keinen Tag weni-

ger in diesem Turm. Braase war hier Kind, Junge, Mann, Vater,

Großvater. Als er starb, weinten viele um ihn.

Die Frau an seinem Grab wischt sich Tränen vom Gesicht.

Jetzt wirft sie den Kopf herum, weil die knirschenden Schritte

des Fremden nicht mehr zu überhören sind.

Guten Tag, sagt der Mann ruhig, in der Hoffnung, sie wird ihr

jähes Erschrecken recht schnell bezwingen.

Er zögert, weil er den noch abweisenden Blick ihrer Augen er-

kennt.

Doch dann stapft er einfach noch näher und reicht ihr wohl-

gesonnen die Hand. Sie reibt ihre Hand zwar kurz an seiner,

sagt aber nichts. Daß sie ihm- immerhin- nicht gänzlich miss-

traut, deutet er als gutes Zeichen.

Sie widmet sich wieder ihrer Arbeit.

Der Mann wirkt eher froh, als betrübt. Hier, in der Einöde, ist

ihm auch nicht sonderlich nach Reden zu Mute. Also tritt er

langsam den Rückzug an, verabschiedet sich, schnappt nach

dem Fahrrad an der Mauer, will gerade das Weite suchen, als

sich der Himmel urplötzlich schwärzt und Gewitterblitze aufs

Land niederkrachen. Schon fallen dicke Regentropfen. Der

Wind erwacht. Schwalben fliehen ans Ufer;bestürmen das si-

chere Turmdach. Möwen schreien.Wiesen rauschen. Mauern

ächzen. Und die zwei Menschen - was tun sie?  Sie reißen fast

gleichzeitig die schwere Turmtür auf, retten - schütteln sich;

schütteln sich wie nasse Hunde; kichern sogar, und die ers-

ten, scheuen Worte hallen gespenstisch von den hohen Mau-

ern wider. Zarte Vertrautheit legt unsichtbare Arme um sie.

Sie reden, lächeln mitunter, sprechen langsam, vertieft, uner-

klärliche Traurigkeit in den Stimmen - es ist ein Wechselspiel

von Heiterkeit und Melancholie.

Erst als eine kurze Pause eintritt, steigen sie die knarrigen

Holzstufen zur Turmspitze hoch; die Frau vorneweg; der Mann

schnaufend dahinter. Ihm ist das nasse, wurmstichige Holz nicht

geheuer.

Die Frau lacht jetzt. Ihm ist nicht danach. Erst als sie zusam-

men auf der wackelnden Empore des Turms stehen - dreiund-

achtzig Meter über den Gräbern - müht sich ein Lächeln in

seinen Mundwinkeln.

Der Turm stöhnt unter der Wucht des schweren Regens. Ein-

mal glauben sie sogar, lose Backsteine in die Tiefe krachen zu

hören. Oder war es nur die tosende Brandung, ein übermäch-

tiges Grollen, das haltlos an Land stürmt?

Während sie - genau wie die Schwalben unterm Turmdach-

dichtaneinandergedrängt ihre Blicke in die regenschwere Fer-

ne schweifen lassen, sagt sie mehr zu sich: Ich bin oft hier. Ei-

gentlich war ich nie weg, von hier...

Erzählen Sie mir davon, bittet er.

Sie schweigt - aber nicht sehr lange.

> Dieser Raum war mein Zimmer...<

Sie zeigt zur Seeseite hin.

> Hier, genau hier, wo wir jetzt stehn, saß Vater auf Wache...

Tagein, tagaus. Merkwürdig, ich erinnre mich nicht, ihn je an

einem andern Platz gesehn zu haben. Manchmal ist er einge-

nickt, aber meist war er hellwach. Dann hat er mir Geschich-

ten von früher erzählt, als er selbst ein kleiner Junge war.

Mein Aussichtszimmer war ja auch schon seins. Er war ganz

stolz, daß es ihm allein gehörte. Sein ganzer Reichtum, wie

er sagte. In seinen Geschichten ging es immer um vorbeifah-

rende Schiffe; um Winde, Gezeiten. Er wurde es nie leid - und

ich auch nicht. Wenn Mutter die weissblaue Bettwäsche zum

Turmfenster raushängte, dann wußte jeder im Umkreis, daß

in der letzten Nacht wieder ein Schiff im Sturm gesunken ist.

Vater war ein wortkarger Mann, was auch nicht weiter verwun-

dert, wenn man unaufhörlich zu tun hat, Schiffen mit Leucht-

feuern den Weg zu weisen. Wenn trotz menschenmöglichster

Wachsamkeit dennoch ein Schiff sank, dann wurde Vater gänz-

lich stumm; aß, trank nichts; schob alle Schuld auf sich.

Von Zweifeln zerrissen, blieb er einfach hier sitzen, starrte ab-

wesend vor sich hin, ließ keinen zu sich; Stunde um Stunde;

manchmal für Tage... <

Sie stockte; atmete tief ein und aus.

> Irgendwann sprach er überhaupt kein Wort mehr, oder aller-

höchstens noch mit sich selbst. Er wurde krank. Mutter häng-

te nun jeden Tag das Bettzeug zum Fenster raus, was soviel

bedeutete, wie: einem Familienangehörigen geht es sehr

schlecht...Nach und nach kamen sie alle, die weitverstreuten

Leute aus der Gegend. Alle wünschten ihm ehrlichen Herzens

baldige Genesung. Aber in ihren Augen konnte man lesen,

daß sie Abschied von dem alten Herrn nahmen. Sie gingen da-

von, und kurz darauf starb Vater... <

Sie bebte; stampfte sich die Trauer aus dem Leib.

> Hier ist er gestorben. Hier, wo wir jetzt sind! <

Das wütende Stampfen ihrer Beine wollte nicht enden.

> Da unten sind alle begraben. Vater, Mutter, und...und...und

all die namenlosen Seeleute, < beeilt sie sich zu sagen.

Unendlich mutlos hielt sie inne. Ihre Tränen brachen in klei-

nen Bächen hervor.

Der Mann zog sie an sich; sanft; ganz behutsam.

 

Das Gewitter verzog sich.

Die dampfende Luft klarte auf.

Zeit zu gehen. Er hätte ihr gern noch etwas Aufmunterndes

gesagt, doch sein Kopf war so schwer vom Erzählten, daß er

nur mitfühlend hinabsank, in ihr Haar; in das feuchte, nach

Seetang riechende Haar.

Einige Minuten vergingen noch. Sie lösten sich voneinander,

stiegen schweigend die Stufen hinab. Unten angekommen,

sah er linkerhand zur Außentür eine in die Wand eingelassene

Schrifttafel, die ihm vorhin nicht aufgefallen war. Er las:

 

Hier lebte einst die Familie Braase. In einer Winternacht des

Jahres 1962 löschte der geisteskrank gewordene Jan Braase

gewaltsam das Leben seiner Frau, seines Kindes und schließ-

lich sein eigenes Leben, durch den Sturz vom Turmdach, aus.

Erst Wochen später fanden Bauern aus der weiteren Umge-

bung die nackten Gebeine der beiden Alten.

Die Gebeine des Kindes jedoch blieben bis heute unauffind-

bar.

 

Darunter der nüchterne Hinweis:

 

Trotz der tragischen Umstände soll dieser Turm als Aus-

sichtspunkt erhalten bleiben. Für fortlaufende Instandset-

zungsmaßnahmen benötigen wir auch Ihre Spende.

Das Bürgermeisteramt in Vietow

 

Der Mann spürte deutlich das beginnende Zittern seiner Glie-

der. Er starrte die Wand an; ungläubig; verwirrt; griff nach der

zarten Hand, neben sich.

Doch er griff ins Leere.

Er sah die Frau davonrennen.

Sein Rufen half nicht.

Müde vor Kummer fuhr auch er davon.

 

Am nächsten Tag kam er wieder. Auch am übernächsten. Aber

der Turm war verwaist. Unermüdlich suchte er wieder und

wieder den verlassenen Ort auf.

Nichts. Keine Menschenseele ließ sich blicken; erstrecht keine

junge Frau, die so schön war und unglücklich, daß er schließ-

lich selbst tieftraurig wurde. Dermaßen bedrückt und bald auch

ohne jede Lebensfreude, bestieg er am Tag der eigentlichen

Abreise den Turm, um sich hinunter zu stürzen.

Da vernahm er hinter sich ein leises Wispern; nein, ein Ki-

chern, wie er es nur einmal gehört hatte...das war ihr Kichern!

Sein Kopf flog herum.

Sie war nicht da.

Die Traurigkeit packte noch härter zu.

Er trat auf die Empore.

Noch einen Schritt.

Da war der Himmel - zum Greifen nah. Und unten, der Fried-

hof...

 

Er entschied sich für den Himmel; rannte die Treppen runter;

zwei, drei Stufen auf einmal; aufs Rad; jagte ihr nach - von

Schwalben flankiert, durch den Wind; jeden Sturm - ihr hin-

terher..!!

Er sieht sich fliegen, lacht hell, ruft, schreit - bis er sie - und

sich selbst am Horizont erkennt. Und plötzlich weiß er, daß er

nicht abreisen wird. Nie mehr!

 

 

(c) Ralph Bruse

 

veröffentlicht in mehreren Sammel-Bänden, u.a.  in Strandgut,

verlageinundsiebzig, Plön ISBN: 978-3-928905-83-1

     Christine

       Ralph

       Heike

 Bild: pinterest

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