Rabaukenviertel
Geschichten aus Alt-Bukow
von
Ralph Bruse
Teil 2
Inhalt:
Heinz
Hu
Beinah Lappland
Der Fremde
Mittelgroße Untermieter
Groß, stark, braun
Dreizehnter April
Geld wie Heu
Manni ins Rathaus
Ole Mulljahn
Hexhex
Gelbe Rosen
Träumer
Alle Rechte für Text, Bilder und Gestaltung hat der Autor inne.
Kopieren oder Nachdruck (auch auszugsweise) sind nur mit
schriftlicher Zustimmung des Autors erlaubt.
(c) Ralph Bruse
Hallo Freunde,
es hat ein bisschen gedauert mit den neuen Geschichten aus Alt-Bukow, aber
jetzt ist es geschafft - sie sind fertig - und ich auch. Halb so schlimm: bei aller
Arbeit hatte ich ja auch meinen Spaß beim Schreiben.
Manni, Micha Sommer, Uli Bittner, Biene, Heike und Co. sind in den neuen Ge-
schichten natürlich auch wieder dabei. Ehe wir Bukow erneut ´unsicher´ ma-
chen, genehmigen wir uns einen kurzen Abstecher nach Maßlow. Das ist ein
Dorf, knappe zehn Kilometer weg von Bukow. Da ist auch einiges los, wenn
nicht gerade nix los ist, oder umkehrt....
Und weil der Winter ja schon vor der Tür steht, hänge ich denn mal zur Ein-
stimmung ein passendes Bild mit reichlich Schneeflöckchen an die erste
(Winter-) Geschichte dran.
Auf gehts. Vergnüglichen Lesespaß wünscht Euch
Ralph
Heinz
Im Winter Neunzehnhundertsoundso schneien wir ein. Ich finde
das nicht weiter schlimm, denn zu dieser Zeit bin ich bei meiner
Tante in Maßlow. Das ist sieben Busstationen von Bukow weg -
weit genug, um Vatters telefonisch angekündigte ´Rettungsversu-
che´ getrost vergessen zu können.
So darf ich denn länger als geplant bei Tante Rosa bleiben - so-
gar über Neujahr, und das finde ich total super! Weniger super
ist allerdings das saukalte Wetter, da draußen. Ein Schneesturm
nach dem andern jagt über’s flache Land. Maßlow guckt nur noch
an einigen, wenigen Stellen aus dem meterhohen Schnee. Mit
Schlittenfahren ist da nichts. Schneeballschlachten fallen ebenfalls
aus. Ist ja auch keine Menschenseele zu sehn - außer Tantchen -
doch die hat Besseres zu tun, als mir Schneebälle um die Ohren
zu schmeißen. Im Dorf wohnen auch nur noch ein paar alte Leute,
die keine Lust auf Schlittenfahrten und Winterspaß haben. Bleib
ich halt im Haus und vertreibe die Langeweile. Da gibts so kleine,
hässliche Tierchen - auch Kakerlaken genannt - die ich mit Vorlie-
be jage....Kommt jetzt bloß nicht auf komische Gedanken...Das
Haus von Tante Rosa ist ganz bestimmt nicht dreckig - nur ziem-
lich alt und morsch. Früher wohnte hier ein richtig fieser Gutsbe-
sitzer. Als der Richtung Westen türmte, gammelte das Haus erst-
mal zig Jahre vor sich hin. Irgendwann zog Tantchen ein - da war
das Haus leider schon fast überall kaputt, und die kleinen, häss-
lichen Tierchen wohnten auch schon drin.
Viel Baumaterial war damals nicht zu kriegen. Sonderlich Lust,
das Haus des Tyrannen von einem Gutsbesitzer wieder flott zu
machen, war auch nicht da. Schließlich konnte man nur noch im
Anbau des Hauses wohnen, weil es da nicht durchregnet, oder
reinschneit. Da haust Tante Rosa jetzt drin. Zwei Zimmer plus
Küche. Immerhin. Nur das Plumsklo ist im Hof.
Also, mir gefällts hier. Anderen scheinbar nicht, denn die zogen
alle weg, in die Stadt, weil es da mehr Arbeit und Abwechslung
gibt. Das Dorf wird immer leerer. Was solls. Wir, die letzten Maß-
lower Mohikaner, sind ja bescheiden, und die vielen, kleinen Krab-
beltiere offenbar auch. Tantchen stört der ‘Tierspielplatz’ sowieso
nicht. Und mich nur manchmal.
Langsam nähere ich mich dem nächsten Krabbler, der gerade ei-
nen Ausflug, Richtung Sesselritze, unternimmt....Da unterbricht
mich eine Stimme.
> Willste Kuchen, Jung’? <
Tantchen schiebt die herabgerutschte Brille an der Nase hoch und
blickt auf. Ihre Augen blitzen.
> Du und die kleinen Biester....Lass sie doch laufen, die armen Vie-
cher. <
> Lass ich ja. Aber nicht über meine Beine! <
Sie lacht.
> Dat passiert schon mal. Die sind einfach nich’ zu bändigen.
Neulich sitzt mir eine von denen im Ausschnitt...Hab mich schon
gewundert, wat mich da die ganze Zeit kitzelt...Und denn, wie
ich den kleinen Teufel seh, bin ich aber ab, wie ‘ne Rakete. Nix
wie raus! Kalt haben die nämlich garnich’ gern...Ich auch nich’,
also wieder rein. Denn steh ich erstma’ nackich da, bevor ich die
Nervensäge zu fassen krieg’. <
Sie seufzt.
> Manchma’ glaub ich, die Biester machen dat extra. Denen macht
dat Spaß, uns ‘n bisschen zu ärgern. <
Die übergroße Nächstenliebe, die kleine Teufel großzügig ein-
schließt, holt sie wieder ein.
> Ach, schiet doch druff. <
Den Satz sagt sie immer, wenn es ihr gut geht und ihr alle - außer
ich - den Buckel runter rutschen können.
> Jetz’ hol ich uns erstma’ ‘n dickes Stück Kuchen, bevor die Mi-
niräuber den auch noch hol’n. <
Sie rappelt sich hoch, schlappt rüber, in die Küche. In dem Augen-
blick klopft es laut an der Haustür. So laut, als würde jemand fes-
te zutreten.
Welcher Verrückte traut sich bei dem Schneesturm raus?, denke
ich. Im Dorf wohnen nur noch drei Omas, deren Männer schon
gestorben sind. Tante Rosa sieht sie nur selten. Eingebildete Omas
kann Tantchen sowieso nicht leiden - schon garnicht, wenn sie sich
lieber Zuhause einigeln, statt sich zum Kaffeeschnack im Gutshaus
zu treffen. Wenn man so einsam wohnt, muß doch erstrecht Zusam-
menhalt sein. Aber nix da. Die annern Dorfeulen (sagt Tante Rosa)
wolln dat nich’.
Jetzt klopft es aber an der Haustür, und wer sonst sollte das sein,
wenn nicht eine der ‘Dorfeulen’...?
> Soll ich aufmachen? <
> Ja, mach nur!, < kommt’s aus der Küche. > Vielleicht brauch ja
wer unse’ Hilfe bei dem Schietwetter. <
Ich renne zur Tür, werfe den hölzernen Riegel herum. Ein Wind-
stoß nimmt mir das Öffnen ab. Die Tür kracht auf, ich knalle auf
den Hintern. Schnee peitscht herein. Ich kneife die Augen, reiße
sie wieder auf...
Nichts. Da ist niemand. Kein Mensch, kein Verirrter, keine Dorf-
oma - absolut nichts...Doch - da hinten seh ich noch jemanden
wegrennen - rein, ins Schneetreiben...
Dann ist die Gestalt verschwunden, als hätte der weisse Wind sie
verschluckt.
Bin ganz schön erschrocken. Wenn das ‘ne Überraschung sein
sollte, dann ist sie gelungen. > Sonst noch wer da?, < rufe ich bib-
bernd.
Nee, keiner. Hab den Geist ja selbst abhaun sehn. War doch ein
Geist, oder?
Blödsinn! Geister gibts nur in Gruselfilmen.
Und wenn’s doch einer war...?!
Dann hat der garantiert ‘ne Schraube locker, weil er keine Leute
erschreckt, wie allgemein üblich. Der hat genauso viel Schiss,
wie ich, weil er wegrennt. Geister, die keine Leute erschrecken,
sind nicht echt. Bleiben also nur zwei Möglichkeiten: das Gespenst
war der Flachlandjeti und mehr oder weniger bekloppt - oder Bei-
des. Ich hab das komische Gefühl, daß der Schneejeti allemal
ziemlich gefährlich werden könnte, wenn er uns nur lange genug
veräppelt.
Unter großer Kraftanstrengung werfe ich die Tür zu; renne zurück,
in die Wohnstube. Muss ziemlich blass aussehen, denn Tante Rosa
nuschelt amüsiert: Is’ dir’n Gespenst begegnet?
> Weiß nicht, < stottere ich. > Erst war da einer, und denn war der
wieder weg. <
> Einer da, und denn doch nich’ ? Kann nich’ sein, Jung’, < beru-
higt sie. > Is’ nur der Wind...Du kuckst zuviel Fernsehn. <
Sie lacht.
> Komm, massier’ mir ma’ ollich den Nacken, dat du auf andre
Gedanken kümmst. <
Sie hat die Ruhe weg. Während ich ihren Nacken knete, klopft es
zum zweiten Mal - deutlich lauter, als vorhin.
> Lass man. Dat hört auch wieder auf, < schnurrt Tantchen und
genießt mit geschlossenen Augen die Lockerung der Halssteife.
Zum Glück hat sie recht. Schon ist es still. Nur der Wind heult.
Dachziegel schebbern. Muntere Tierchen wandern über die Couch,
und ich muß dringend aufs Klo.
Nur ungern lässt Tantchen mich ziehn, denn so eine Massage ist
ja schon was Feines.
Kaum hab ich es bis in den Hof geschafft, da läuft mir doch tat-
sächlich die gleiche Gestalt über den Weg, die vorhin erst im
Schneesturm verschwand...! Nur ganz kurz kann ich das vorbei-
huschende Gesicht erkennen...Und dann weiß ich, daß da kein
Geist, sondern ein Mensch rumspukt. Ein alter Mensch...Eine
Dorfeule - pardon - Oma, genauergesagt.
Wieder rennt sie vor mir weg. Bin trotzdem so erschrocken, daß
ich die Pinkelei getrost auf’s nächste Mal verschieben kann, denn
meine Hose....Ihr wisst schon. Einpinkeln ist nicht schlimm. Riecht
nur eklig.
Renne, so schnell es geht, ins Haus und erzähle Tantchen aufge-
regt von der unheimlichen Begegnung am Lokus.
Und was macht sie?
Sie glaubt mir kein einziges Wort. Einmal Spinner, immer Spinner,
wird sie wohl denken.
Schwöre hoch und heilig, daß ich die Alte im Unterrock (im Un-
terrock!) mit eigenen Augen gesehn habe.
Aber Tantchen mixt seelenruhig Waldmeisterbrause, schneidet
mir ein fettes Stück Zitronenkuchen ab, wuschelt mir das Haar
und kichert.
> Eins muß man dir lassen, Jung’...’ne blühende Phantasie has-
te....So, nu’ ess man erst, und denn siehste auch keine Oma im
Schlafrock mehr. <
Die Wanduhr bimmelt.
Tantchen streckt sich; gähnt ausgiebig.
> Klock söben...Ick brauch min Schönheitsschlaf. <
Allein bleib ich auf keinen Fall in der Küche!, also frage ich hur-
tig: > Darf ich mit? <
Ich darf. Ausnahmsweise.
Für den Moment bin ich glücklich.
Später, in Tante Rosas' Bett, schwächt sich jenes Glücksgefühl
rapide ab, denn Tantchen schnarcht selig und ich fühle mich
plötzlich sooo allein! Jedes Geräusch in und außer Haus wird ge-
nauestens registriert und bewertet. Das Knarren im Gebälk, das
Beben aller Fenster und Türen, das Heulen des Windes.
Zum Heulen ist auch mir! Habe ernsthaft die Befürchtung, diese
Nacht in dem morschen Haus ist die Letzte. Die Ruine kracht über
uns zusammen. Bums. Aus. Schnee drüber. Berge aus Schnee.
Maßlow gibt's nicht mehr. Und kein Hahn kräht nach uns...Wie
kann Tantchen bloß so ruhig schlafen, während draußen der Bär
tobt?!
> Tantchen...? <
Krieche näher zu ihr.
Große Ruhe kommt. Bin nun genauso groggy, wie das altersschwa-
che Haus. Wenn schon vor Angst sterben, dann wenigstens im Arm
der allerliebsten Tante. Ist zwar schade, aber irgendwie auch tröst-
lich.
Allmählich falle ich in tiefen, tiefen Schlaf.
Nach Mitternacht - so gegen halb zwei - schrecke ich hoch.
Ums Haus schlurfen Schritte. Ganz deutlich zu hören...Schritte!
Jetzt nähern sie sich wahrhaftig der Haustür!...Das muss die Alte
im Schlafrock sein...!
In meiner dünnen Brust platzen Knallfrösche. Weiß bei bestem
Willen nicht, ob ich Mumm, oder wieder Schiss haben soll. Krie-
che unter das Zudeck; kitzle an Tante Rosas’ Beinen. Sie kichert,
rollt sich auf die andre Seite und schnarcht munter weiter.
Mist, elender! Was jetzt? Den Helden spielen?
Na gut. Aber nur dieses eine Mal!...Bestimmt auch das letzte
Mal...Helden sterben nämlich meistens im Kampf Mann gegen
Mann - und nicht vor lauter Schreck. Deshalb heißt es ja auch Hel-
dentod.
Kann ich drauf pfeifen. Genau, wie auf den Tod durch Erschrec-
ken! So betrachtet spiel’ ich denn lieber doch nicht den Helden...
Blinzle durch den Spalt im Bettzeug nach draußen. Horche....Da
sind sie wieder - die lahmarschigen Schritte, direkt an der Haus-
tür. Ich kann die Gestalt sogar laut reden hören. Ja, sie brabbelt
mit irgendwem...Aber da ist nur ein Schatten zu erkennen - keine
zwei. Plötzlich heult das wandelnde Gespenst sogar - heult lauter
als der Wind - viel lauter und grässlicher...! Ist das wirklich die
Alte im Unterrock?
Kann nicht sein. So heult doch kein Mensch!
Es hört garnicht mehr auf. Ich halte das grausige Johlen auch
nur deshalb aus, weil Tantchen mich beschützt - wenn sie denn
wach wär...Ist sie aber nicht. Schlagartig wird mir klar, daß ich
ganz allein in dem blöden Kaff bin! Fast allein, denn Tantchen
schläft. Das ist schlimm - nicht für sie, umsomehr für mich!
Eine Entscheidung muß her. Notfalls wird gekämpft!...Wenn
endlich Ruhe einkehren soll, ist kämpfen unausweichlich. Er,
oder ich. Jeti gegen Mohikaner. Nur einer kann gewinnen - näm-
lich ich! Also, klar, zum Gefecht...!
Großmaul, elendes.
Nee, ich muß garnicht kämpfen. Kann auch im Bett bleiben. Ist
auch viel gemütlicher, hier. Außerdem bin ich hundemüde. Sooo
müde.
Keine Ausreden, Schlappschwanz!, blökt die verlorengeglaubte,
tapfere Stimme in mir. Los, schwing die Hufen! Kann ja sein, daß
da draußen einer steht, der Hilfe braucht!
Warum grade meine Hilfe?, jammert der andere - der Schlapp-
schwanz. Keine hundert Meter weiter wohnt auch noch einer...!
(Der Tapfere) : Papperlapapp. Los, hoch mit dir, und aufmachen,
aber ganz fix!
Der Tapfere gewinnt. Sträube mich noch nach Kräften, hab aber
keine Wahl, denn der Tapfere macht mir Feuer unter den Füßen.
Die Füße wiederum sind plötzlich so heiss, daß ich aufspringen
und zur Tür rennen muß, weil sie sonst glatt brennen würden.
Na also, geht doch. Und jetzt machste die Tür auf...
Soll ich wirklich?
Mach hinne!, nervt der Tapfere.
Ja ja. Aber auf deine Verantwortung...!
Luft anhalten. Tür aufreißen.
Ausatmen.
Alles halb so wild.
Draußen steht die Alte im Unterrock. Halb erfroren ist sie. Halb
erfroren ist besser, als ganz erfroren...Also, schnell rein mit ihr -
ab, ins warme Wohnzimmer, an den Ofen gesetzt und auftauen las-
sen - ganz langsam auftauen, bis die gelblichen Eiszapfen an der
Nasengurke nur noch gelber Rotz sind und die glitzernden, trau-
rigen Augen nur noch traurig, ohne Glitzern. Sie starrt mich an
und durch mich durch. Ihr grässliches, sirenenähnliches Geheul
fängt von vorne an. Zwischendurch wimmert sie: > Heinz! ...oder
keins, < oder so ähnlich. Ohne Gnade stimmt sie wieder ihr oh-
renbetäubendes Heulen an. Könnte auch Weinen sein. Zu hören
ist aber nur Sirenengeheul.
Dachschaden, denke ich. Die ist total bekloppt. Oder unglücklich.
Endlich wird Tante Rosa wach. Noch etwas verwundert reibt sie
sich die Augen. > Frau Klein...Nanu! Welcher Wind hat sie denn
herjeweht? <
Obwohl sich die Beiden nur von Weitem kennen, umarmt sie die
verstörte Alte. Ich muß jede Menge Decken holen, damit Oma
Klein schneller auftaut, denn Tante Rosa hat alle Hände voll zu
tun, erstmal das Geheul des späten Gastes zu beenden. > Heinz!, <
ruft sie andauernd. > Heinz!...Min Heinz...! <
Die Arme.
Für mich gibt's nichts mehr zu tun.
Also krieche ich zurück, in das von Tantchen angewärmte Bett.
Frei von großen und kleinen Sorgen entschwebe ich ins König-
reich der Träume.
Ach ja, Frau Klein....Die ist wirklich meschugge. Tante Rosa hat
später öfter mal von ihr erzählt. Auch, daß sie bis zuletzt nach
Heinz, ihrem verstorbenen Mann, suchte. Der ist zwar schon zehn
Jahre tot, doch kein Schneesturm der Welt konnte sie davon ab-
halten, weiterzusuchen. Was sein muß, das muß eben sein.
Eigentlich ist Oma Klein ganz schön zäh. Doch die ewige Ren-
nerei durch Schnee und Eiseskälte - barfuß, im Unterrock, immer
quer durch die Botanik - das hat sie doch nicht so einfach weg-
gesteckt. Letzte Woche ist sie an schwerer Lungenentzündung ge-
storben. Für sie ist diese Geschichte. Und für den Heinz natürlich.
Der liebe Gott wird die Suche nach ihm bestimmt zur Chefsache
erklären...damit Oma Klein endlich ihren Frieden findet - und
den Heinz dazu.
Geschichte & Bild: (c) Ralph Bruse
Hu
Ein nebliger Tag im Dezember.
Ehe die Sonne richtig da ist, verschwindet sie schon wieder. Der
Wind schläft ein. Die Luft ist kalt und riecht nach Fisch. Abend.
Die Läden, entlang der Mole, schließen. Lichter gehen aus. Türen
klappen auf und zu. Stimmen. Motorengeknatter. Schritte. Dann
ist es still im Bukower Hafen. Streunende Katzen nehmen die
Fischkutter in Besitz. Oben, am dunkelblauen Himmel, torkeln
Sterne und Mond. Sieht jedenfalls so aus, als würden sie torkeln,
weil der nasse Nebel keine Lust hat, sich zu verziehen.
Die Katzen. Sie huschen von Boot zu Boot, klettern sogar an den
Masten hoch, um an die Fischreste in leise bimmelnden Fangnet-
zen zu kommen. Ein Abend wie jeder andere, könnte man mei-
nen - friedlich und still.
Still, ja. Friedlich, nein...
Ein klapperndes Fahrrad nähert sich dem Hafen. Der Junge, da-
rauf, saust die letzten Meter freihändig. Er springt ab, wirft das
Rad ins Gras. Dann läuft er auf eine Ladentür zu, öffnet sie, ge-
langt zur nächsten Tür, im hinteren Teil.
Die Tür fliegt auf. Das Deckenlicht blendet ihn. Die Hand als
Schirm über den Augen, ruft er: > Na, Hu. Wie gehts? <
> Hei hei, < antwortet der dürre Mann am Tisch und weist auf
den Platz neben sich. > Komm...<
Lächelnd widmet er sich wieder seiner kniffligen Arbeit. Eigent-
lich lächelt der Alte immer, auch wenn er nicht arbeitet. Chinesen
sind so - nicht alle - aber Hu. Einige Leute im Viertel mögen ihn
gerade deswegen nicht besonders. Ein lächelnder Souvenierhänd-
ler verkauft eben viel mehr, als ein Miesepeter. Die Leute glauben
ernsthaft, daß Hu nur grinst, weil das seinen Umsatz steigert. Da-
bei grinst er immer; wahrscheinlich auch im Schlaf; nur weiß das
keiner, oder nur wenige. Er kann ja nichts dafür, daß sein Dauer-
lächeln echt ist, und keine Schau.
Hu selbst erklärt das ungefähr so: > (R)Luhe in dir und lächle
Leben an. Also liebt Leben auch dich. <
Ich - der Junge mit dem Fahrrad - finde das logisch, auch wenn
mir seine Weisheiten anfangs eher spanisch, als chinesisch vor-
kommen.
Macht ja nichts. Hu ist mein drittbester Freund. Wenn Manni
nicht der Erstbeste und Biene nicht mein zweitbester Freund wä-
ren, dann wär Hu wohl mein allerbester Freund.
Okay, seine Freundlichkeit verstehen einige Leute nicht. Ab -
und zu hab ich aber auch den Verdacht, daß sie ihn garnicht ver-
stehn wollen, weil er halt Chinese ist.
Chinese, Pekinese, oder Irokese - mir ist das ziemlich schnuppe.
Hu ist jedenfalls ein guter Chinese und er hat richtig was auf
dem Kasten. Erlebt hat er auch schon 'ne ganze Menge. Er kam
als Flüchtling hierher; ist kein Schnorrer, wie er betont. Nee, er
war richtig auf der Flucht, in einem Boot, hat viel gesehn - vor
allem Schlimmes. Und jetzt ist er seit zwei Jahren hier, in Bu-
kow, und verkauft in seinem kleinen Laden Trödel und Ansichts-
karten. Alles erspart und eigenhändig aufgebaut!, sagt er stolz.
Die Urlauber im Hafen mögen den Exotenopa mit Spitzbart auf
Anhieb, weil er viel netter ist, als einheimische Verkäufer, die
Touristen nur als notwendige Plage sehen.
Je mehr der nette Chinese verkauft, desto öfter zetteln die ande-
ren Verkäufer Stunk an. Neid. Purer Neid, sonst nichts.
Fair ist das logischerweise nicht. Aber noch dicker kommt es für
Hu, als sie ihm neulich nacht die Ladenfenster einschmeißen
und Feuer legen.
Weil Hu noch drin war, verbrannte nur der halbe Laden.
Er rackerte sich wie blöd ab, um den Laden wieder einigermaßen
hinzukriegen.
Nach vier Wochen öffnete er wieder.
Dann trudelten Drohbriefe bei ihm ein. Verschwinde, Reiskac-
ker!, schrieben sie ihm. Oder: Verpiss, dich, wenn dir dein Leben
lieb ist, Schlitzauge!
Also, wenn ich solche Briefe kriegen würde, wär ich ziemlich
schnell aus Bukow verschwunden.
Hu ist aber kein Angsthase, wie ich, sondern stur wie ein Esel.
Noch....
Naklar, tief drinnen war er getroffen, aber nicht besiegt. Er lächel-
te auch weiterhin tapfer und ließ sich nichts anmerken.
> Nix so slimm, < sagte er scheinbar ruhig.
Und fügte hinzu: > Lass Schadenfleude andele tief in dich helein
und velwandele sie in Fleude der Schönheit. <
Er strich mir durchs Haar.
> Wil Fleunde. Das Lösung allel Plobleme. <
Ich fand das irgendwie stark und nickte eifrig.
Schließlich verstand ich aber auch, daß ich im Moment Hus' ein-
ziger Freund bin - daß ein Freund aber entschieden zu wenig ist,
und daß ich das schnellstens ändern muß, bevor noch Schlimme-
res passiert.
Zur Zeit geben die Feuerteufel Ruhe. Lange wird die Ruhe aber
nicht halten, soviel ist mal klar. Morgen, oder übermorgen flie-
gen wieder Steine und Brandbomben. Und irgendwann schmeißt
dann auch der geduldigste Chinese den ganzen Krempel hin.
Es gibt etwas, das meinen drittbesten Freund sofort zur Aufgabe
zwingen könnte... Eigentlich ist es top secret, aber so geheim
auch wieder nicht. Ihr dürft es nur nicht weiter erzählen, denn
sonst würde Hu ganz schön in der Klemme sitzen. Also, der Rei-
he nach...
Wie gesagt - draußen ist es an jenem Abend neblig. Sterne und
Mond torkeln am Himmel, und im Hinterzimmer des Andenken-
ladens sitzen Hu und ich vor einem großen Tisch. Auf dem Tisch
steht unser Geheimnis. Es steht nicht nur - es lebt sogar...! Da
wachsen Bäume; eine ganze Allee....Heute nacht wird eine Blu-
menwiese entstehen und morgen wird ein schmaler Bach durch
die Landschaft fließen. Ein Berg ist schon fertig, und der Bach
wird wird am Ende des großen Tischs ins Meer trudeln. Natürlich
wird es auch einen Hafen mit vielen Leuten geben - aber nur net-
te Leute - die Bösen kann man dann für eine Mark kaufen und bei
Lust und Laune anzünden und als Rakete zum Mond schießen.
Kinder werden in der Landschaft herumtoben, kleine und große -
lachende, freche Kinder. Mal sehn, vielleicht gibts auch ein paar
Muttis und Papas, Omas und Opas - aber nur solche, die Spaß
wollen und keinen Stunk machen.
Im Traumland ist auch Platz für Miezekatzen und Hunde, und für
Fische im Wasser. Vögel werden sogar nachts trällern, weil die
Sonne immer scheint. Und alle Leute sind braun wie Schokone-
ger vom vielen Sonnenschein. Chinesen, Indonesen, Portugesen
oder Blankenesen - piepegal, weil wir ja sowieso alle Neger sind.
Es gibt auch nur eine Sprache, und die Leute verstehn sich nicht
nur deswegen supergut.
Naja, schön wärs... Aber immerhin wird auf dem Tisch eine Land-
schaft entstehn, die der echten gleich ist - nur eben kleiner. Viel,
viel kleiner.
Hu ist ein Spitzenkönner im Nachbauen echter Landschaften. Die
Bonsaibäume in der riesigen, flachen Wanne aus Ton haben schon
Wurzeln geschlagen. Der Bach, dazwischen, wird zwar von einer
Pumpe, versteckt unter dem Tisch angetrieben, aber er fliesst und
plätschert wie sein großer Bruder, der Wühlbach am Schrottplatz.
Gerade setzt Hu den letzten, fehlenden Kirschbaum punktgenau
an der richtigen Stelle ein.
Ein letzter, prüfender Blick. Dann richtet er sich auf.
> Bäume bei uns bedeuten Halmonie. <
Blitzschnell schnappt er nach einer vorbeisausenden Fliege und
setzt sie behutsam auf eine der Kirschblüten.
Der Fliege gefällt das. Sie streckt die dünnen, schwarzen Fühler
aus und krabbelt tiefer, in den Blütenkelch.
> Auch Fliegel leben fliedlich in unsele Schale, < denkt er laut
nach.
> Fliege, Hu, < verbessere ich ihn.
> Jaja, Fliegel. <
Seine Hand sinkt auf meine Schulter. Sie zittert, ich kann es deut-
lich spüren. Zum allerersten Mal ist auch sein Lächeln verschwun-
den.
> Wenn Tlaumland kaputt, ich gehn weg. <
Die plötzliche Unruhe lässt auch meine Stimme zittern.
> Nee, du bleibst hier! <
Hu hört garnicht richtig hin.
> Du dann fehln, mein Fleund. <
Die Unruhe stürmt sich ihren Weg frei.
> Ich werde dir nicht fehlen, weil du nämlich hierbleibst!, <
schnauze ich. Du bleibst hier. Ich geh, klaar? Und ich komm
wieder! <
Erstmal tief Luft holen.
Dann zur Tür.
Ich zerre am Griff, höre noch, wie Hu klagt: > Ich mide. Muss
schlafe, wie Baum in Schnee. <
Mist, verdammter! - das klingt, als wolle Hu endgültig aufgeben,
weil ihm ein paar Idioten den Laden nicht gönnen.
Während ich durch die schwarze Nacht renne, kommen mir die
schlimmsten Gedanken.
Wohin soll er denn abhaun?
Etwa zurück, nach China?
Die husten ihm was!
Also, wohin sonst?
Nirgendwohin. Er wohnt jetzt hier und da bleibt er auch, basta!
Im Ortszentrum ein hastiger Blick zur Turmuhr.
Schon nach elf.
Normalerweise klingelt man bei Nacht und Nebel keine Leute
aus den Betten. Aber normal ist das alles sowieso nicht. Und
die Sache eilt. Also weiter!
Max Pietsch-Straße 3...Endlich!
Ich klingele Sturm.
Im zweiten Stock scheppert ein Fenster.
Dann eine übelgelaunte Stimme.
> Dat darf ja wohl nich' wahr sein, ne?...Schlaf ich noch, oder
spinn' ich schon?! <
> Manni!? <
> Wer will dat wissen? <
> Es ist wegen Hu..! <
> Wat für'n Uhu? <
> Wegen Hu, dem Chinesen! <
> Hu?...Chinese?... Kenn ich nich'.<
> Doch kennst du Hu!<
> Wenn du meinst. Denn komm ma' rauf, du Quälgeist. <
Ich sprinte die Treppen hoch.
Etwa eine Stunde später weiß Manni über alles Bescheid.
Am nächsten Tag wissen auch die Idioten im Hafen Bescheid:
Ab sofort steht Hus' Laden unter strengstem Naturschutz -
pardon, unter Mannis und unserem persönlichen Schutz. Wir
haben herumerzählt, daß wir jeden zur Sau machen, der hier
nochmal mit Wurfgeschossen und Feuerzündlern anrückt. Und
das meinen wir auch so!
Außerdem betreten gegen Mittag Manni und elf seiner Freunde -
lauter 'furchtbar brutale Halbstarke' - den Laden von Strullke,
dem Fischhändler, der sowas wie der Anführer der Idioten ist -
jedenfalls war Strullke schon immer der Lauteste, wenn es da-
rum ging, gegen Hu zu wettern.
Wir hauen mächtig auf den Putz.
Ganz zum Schluss schärft Manni dem blöd aus der Wäsche glot-
zenden Fischfritzen ein: > Kein Mucks mehr, Freundchen. Sonst
gib's ollich wat auf die Rübe. Und dein Laden is' denn auch Klein-
holz, Karlerwin. Worauf du ein' lassen kannst!...Is' dat ma' rein
akustisch in deiner Hohlbirne angekomm'??!!! <
Ist es. So laut haben wir Manni jedenfalls noch nie brüllen hören.
Wir ziehen Leine.
Strullke schnappt noch eine Weile lang nach Luft - überlegt of-
fenbar, was er als Nächstes tut.
Nichts tut er, wie sich herausstellt. Der hat zum Glück die Hose
voll. Zwölf Feinde, plus den Chinesen, sind eben entschieden zu-
viele.
Gut so. Gut für ihn. Für Hu. Und gut für uns alle.
> Jo, manchmal geht dat eben nur auf die harte Tour, < meint
Manni, Tage später. Und: > Sah richtich blass aus, der Fischhei-
ni, ne? <
Er köpft ein Bier und verteilt Waldmeisterbrause an seine 'furcht-
bar brutalen' Freunde im Fahrradschuppen.
> Jedenfalls kann der olle Hu nu' wieder in Ruh' sin Schietkram
verscherbeln. Na denn Prost, Männer! <
Bittner kneift ihn am Arm - zeigt auf Biene.
Manni verschluckt sich fast.
> Oha. Schussel, der ich bin. Also nochma' von vorn...Prost, Ihr
tapf'ren Männer und Frau'n!...Besser? <
Biene kichert.
Geschichte und Bild: (c) Ralph Bruse
Beinah Lappland
Sabines Opa heißt Paul. Der hat ein Schiff, weil er Fischer ist. Ei-
gentlich ist es eher ein Boot mit Dach, doch Opa Paul nennt es
stolz ‘min Schipp’. Sein Schiff heißt nicht Seeadler 2 oder Sturm-
möwe 1, nicht Mausi, Gabi oder Minna, sondern schlicht und ein-
fach ‘Paul’ - genau wie Opa Paul. Aber sonst ist Bienes Opa über-
haupt nicht eingebildet. Manchmal nimmt er sie mit raus, zum Fi-
schen. Inzwischen kennt Biene an Bord jeden Handgriff. Ist nicht
schlecht, wenn man über alles Bescheid weiß - vor allem, wenn
zu Hause so dicke Luft ist, daß man abhauen will. So wie neulich.
Da kam Biene zu mir und fragte freiraus, ob ich mitkomm’, nach
Lappland?
Weil Lappland ja nicht gerade um die Ecke ist, wollte ich erstmal
wissen, was so toll daran sein soll?
Biene verdrehte die Augen. > Na alles. Wirste schon sehn! <
> Und wie lange fahrn wir da? <
Sie tippte sich an die Stirn. > Ungefähr drei Tage, < sagte sie
schließlich.
> Drei Tage ??... Nee, geht nicht. Freitag ist nämlich Schuldisco.
Und wenn wir schneller fahrn? <
> Schneller geht nich’!, < fauchte sie. Dann schlug sie die Hände
vor’s Gesicht und weinte laut los.
Heulende Mädchen machen mich ganz nervös - vor allem, wenn
es Biene ist. Also stehe ich erstmal da und hab von nix ‘ne Ah-
nung. Na gut...lässig anpirschen, Arm um ihre Schulter legen -
besser beide Arme, langsam heranziehen - sachte, gaaanz sachte.
Mist, blöder, ich bin ja sowas von schüchtern!
Irgendwie klappt es doch - oder nicht - zumindest nicht gleich.
Dann liegt ihr Kopf an meiner Schulter. Aber das Weinen geht
weiter. Ich versuche es mit einem uralten Witz. Das nützt gar-
nichts. Davon wird es nur schlimmer. Versuche es sogar mit Kit-
zeln.
Totaler Reinfall. Biene scheuert mir eine und heult ohne meine
Umarmung weiter.
Ich bin ratlos - weiß nur ganz sicher, daß ein Freund kein Freund
ist, wenn er im Ernstfall kneift. Lappland ist doch total beknackt!,
denke ich.
> Jesses, von mir aus auch nach Lappland, < sage ich.
Schlagartig hört das Heulen auf.
Kurze Zeit später sind wir im Hafen.
Opa Pauls Kutter ist startklar. Mir ist nicht wohl bei dem Gedan-
ken, die nächsten drei Tage auf einem mickrigen Fischkutter von
haushohen Wellen umzingelt zu sein.
> Versprech’ mir, daß wir nicht untergehn. <
> Haste etwa Schiss?!, < schnauzt Biene. > Okay, ich versprech’s.
Zufrieden? <
Ich knurre vor mich hin.
Sie startet den Motor. Plötzlich fällt ihr ein, daß sie noch was
Wichtiges vergessen hat. > Benni hat Schnupfen. Der muß auch
mit! <
> Benni? Was für’n Benni? <
> Frag nich’ so doof! Kennst doch Benni! <
> Ach so, der... < ’n Bernhardiner in Lappland ? Von mir aus.
> Bin gleich wieder da! <
Weg ist sie.
Ich warte.
Und warte.
Eine Stunde warte ich.
Zwei Stunden.
Zweieinhalb.
Von Biene keine Spur. Inzwischen ist es nach Mitternacht. Ich
friere, leide ernsthaft, verfluche Lappland. Und weil die Kapitä-
nin nicht auftaucht, verfluche ich auch sie, samt Riesenköter.
Schließlich bin ich so sauer, daß ich in Erwägung ziehe, den
Kahn wieder anzuschmeißen, um allein nach Lappland zu tuc-
kern. Müde bin ich auch. Sowas von müde! Der kalte Wind pus-
tet mir was. Opa Pauls Kutter hat keine Kajüte, nur den über-
dachten Auskuck. Da ziehts von allen Seiten rein. Also ist nichts
mit Schlafen.
Eigentlich, überlege ich, muß ich ja nur schnell abhaun, brauch’
nur nach Hause rennen - husch husch ins warme Bett - und das
ganze Elend hat ein Ende. Eigentlich....Ich bin nun mal Bienes
Freund. Sie wird es garantiert überall rumpetzen, wenn ich sie
jetzt hängen lasse. Nicht nur sie bin ich dann los, sondern auch
ihre Freunde, weil die auch meine Freunde sind.
Da helfen nur noch schöne Gedanken an die nächsten Sommer-
ferien in Lappland.
Scheisslappland!
Ich lege mich ganz flach ins Boot, um dem eisigscharfen Wind zu
entwischen. Das klappt auch, nur leider finde ich mich auf eben-
falls vereisten Holzbohlen wieder, und da liegt’s sich nicht so gut.
Kurz bevor ich selbst ein vereistes Holzbrett bin, kommt aus der
Dunkelheit ein bekanntes Gesicht auf mich zu. Na, wer wohl...?
> Wir fahrn ‘n andern Mal nach Lappland!, < kichert Biene ver-
legen. Schnell bemerkt sie, daß ich nicht mehr lange brauche, um
als Eiszapfen durchzugehn.
> Na komm, du Armer...<
Wie der olle Opa Paul schlurfe ich neben Biene her: stocksteif
und nicht mehr ganz klar im Kopf. Doch, klar schon, bin aber ir-
gendwie ‘fester’ geworden. Einmal glaube ich sogar, mein Blut
knirschen zu hören. Aus weiter Ferne summt Bienes Stimme an
meinen Ohren vorbei.
> Zuhaus’ is’ wieder klar Schiff, < kann ich verstehen. > Außer-
dem is’ Opa Paul bestimmt stinkich, wenn sein Kahn morgen
früh nich’ hier is’. <
> Heute früh... < stammel’ ich gedehnt, als wären das meine
letzten Sterbenswörtchen.
> Stimmt...Hee, du kannst ja sprechen!, < feixt sie und schiebt
mich von Bord, Richtung Ortsmitte.
Dann sind wir zuhause, oder bessergesagt: Biene ist zuhause.
Ich muß noch weiterwandern - müde wackelnd, halb erfroren,
ganz allein - das ist sowas von gemein!
Ich muß ziemlich traurig aus der Wäsche geglotzt haben, denn
Biene war nur selten so lieb zu mir, wie in jener bösen Winter-
nacht.
> Willste bei mir schlafen? <
Trotz schwerster gesundheitlicher Schäden beginnt etwas in mir
zu glühen.
Wir schleichen rauf, in ihr Zimmer. Da ist es bulligwarm.
Bald werde auch ich bulligwarm. Als wieder Leben in meine Hän-
de kommt und sie von allein um Bienes weiche Brüste kreisen, da
weiß ich, daß sie Muttis Brüste eingeholt haben.
Das beunruhigt mich etwas.
> Schlaf jetzt, < sagt Biene und hält meine Hände fest. Wenigstens
darf ich ihr allerheiligstes Gebüsch einmal berühren. Einmal, ganz
kurz. Weil sie aber merkt, daß mich das noch unruhiger macht,
schlägt sie vor, Lappländer zu zählen.
Voller Unlust beginne ich damit.
> Ein Lappländer. Zwei Lappländer. Drei Lappen. Fünf Lappen...<
Viel lieber würde ich Bienes Leberflecken zählen - vor allem die in
Bauchnähe.
Leider schläft sie schon.
Ich bewache ihren Schlaf, bis es hell wird, draußen.
Ehe der Sandmann auch mich holt, denke ich noch: bei Biene auf-
tauen....das müssen wir unbedingt wiederholen!
(c) Ralph Bruse
Beinah Lappland ist vertont unter (selbst-) gesprochene Geschichten
auch zu hören.
Der Fremde
Vielleicht waren es die schönsten zwei Tage seines Lebens...
Keiner wusste, wo er herkam. Er war einfach da - saß an der Ha-
fenmole und spielte Mundharmonika. Sein Mantel war schmutzig,
die Schuhe kaputt. Auf eine unbestimmte Art hockte er da, als sei
auch er kaputt. Die Leute gingen schneller, wenn sie ihm begeg-
neten. Okay, er sah schon ziemlich abgewrackt aus - ähnelte einer
krummen Vogelscheuche. Es schien, als würde sein Mantel auf
zwei dünnen Krücken baumeln. Der von Bart - und Kopfhaar um-
wucherte Kopf passt locker doppelt in die lapprige Mütze. Seine
Augen tränen, die frostrote Nase tropft dauernd, seine Mundwin-
kel zeigen nach unten. Kurzum: er ist nicht nur abgewrackt und
traurig: er ist, alles in allem, auch ziemlich hässlich - drum inte-
ressiert er uns ja auch mehr, als jeder andere Fremde.
Es ist kurz vor Weihnachten, und schweinekalt. Micha Sommer,
Uli Bittner und ich strolchten am Hafen herum, als uns der Frem-
de zum wiederholten Mal auffällt.
> ‘n Penner, < stellt Bittner trocken fest.
> Glaub ich nicht, < widerspricht Micha. > Der schnorrt ja keinen
an. <
Einstweilen lassen wir flache Steine übers Wasser pitschen. Bitt-
ner erwischt, absichtlich oder nicht, eine Möwe, entschuldigt sich
aber sofort bei ihr. Die Möwe zieht kreischend Leine. Bittner
grinst sich eins.
> Tote Hose, < flaumt Micha.
Wir wollen gerade abziehen. Da meldet sich eine Stimme.
> Ihr langweilt euch, stimmts? <
> Hast es erfasst, < nölt Bittner.
> So gehts mir auch oft. <
Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben.
> Wisst ihr was? <
> Nee, wissen wir nich’ ... <
> Ich lade euch in meine bescheidene Hütte ein! <
> In deine Hütte?, < mault Bittner ohne jede Begeisterung. > We-
gen meiner. Na denn, Alter geht vor Schönheit... <
Die ‘bescheidene Hütte’ entpuppt sich als mickriges Zweimann-
Zelt, das hinter Büschen versteckt, in Nähe des Fußballplatzes,
steht. Es ist die ungemütlichste Hütte, die wir je gesehn haben!
Eng ist es drinnen. In der einen Ecke sein Schlafsack, Kochpott,
Klappmesser, Löffel, Tasse - sonst nichts. In der anderen Ecke
Leere. Da passen wir zu Viert gerade so hin. Die Zeltplane unterm
Arsch ist feucht und lausigkalt. Immerhin: der Gastgeber lächelt.
> Hab leider noch nichts zu Essen da, < sagt er. > Hol’ ich mor-
gen nach. Aber ich freu’ mich, daß mal jemand zu Besuch ist! <
Er reicht seine zittrige Hand herum; lächelt noch etwas mehr.
> Haste auch ‘n Namen?, < fragt Bittner.
> Malte. <
> Na denn, willkommen in Grönland-City, Malte!, < flappst Bitt-
ner und zieht den Schlafsack wegen beginnender Erfrierungen zu
sich.
> ‘ne Bodenheizung könnste hier ruhich mal einbaun!, < ergänzt
er bibbernd und kriecht bis zum Bauch in den Muffsack.
Den Alten packt ein Hustenanfall, der ziemlich lange dauert und
sich garnicht gut anhört.
> Uran, < röchelt er, nachdem das Gröbste vorbei ist.
> Uran?...Ist doch nicht ansteckend, oder?, < will ich wissen.
> Nicht ansteckend, < beruhigt er. > Strahlt nur. Haben wir früher
für’n Russen aus’m Schacht geholt. <
Er senkt den Kopf und nuschelt: > die Lunge is’ hin. <
Der nächste Hustenanfall.
Wir beschließen, erstmal abzuhaun. Verprechen aber, wiederzu-
kommen.
Versprechen soll man halten.
Ungefähr zwei Stunden später klopfen, oder besser: scharren wir
an der Zeltplane.
Zunächst ein mühsames Schnaufen. Dann ein überraschtes: Wer
is’ da?
> Na, wir!, < kommt es fast gleichzeitig zurück.
Der Reissverschluß öffnet sich. Geruch von Erbrochenem schlägt
uns entgegen. Die Wiedersehensfreude beiderseits ist stärker, als
der Geruch von Kotze - also ziehn wir ein.
> Mir ging’s nich’ gut, vorhin, < entschuldigt er sich mehrmals.
Seine Augen richten sich auf die vielen Fressalien, die wir von
unseren Armen laden und aufgeregt vor ihm ausbreiten. Würste,
zwei Brote, Milch; sogar Bittners Lieblingsschokolade, mit Puff-
reis. > Alles auf die Schnelle zusammengekratzt!, < verkünde ich
stolz.
Der Fremde - Quatsch, Malte - verschluckt einen Halskloß nach
dem andern. Seine Augen glänzen. Er wischt eine Träne weg, die
sich in Richtung Nase abseilen will. Viel sagen kann er nicht.
Muß er auch nicht. Wir merken auch so, daß er sich freut.
> Jetzt mampfste dich erstma’ dick und rund, und denn wirste
auch wieder fit, wie Fiffi!, < meint Bittner.
Bevor Malte antworten kann, teilt Bittner Ellbogenchecks nach
links und rechts aus. > Abflug, Leute....Wir komm’ morgen noch-
mal. Weißt Bescheid, ne. Immer feste reinhaun, daß du groß und
stark wirst! <
Malte lacht - winkt uns nach. Dann stehen wir in der Kälte, in aus-
reichender Entfernung zu Maltes Zeltkabuff und schnappen erst-
mal gierig nach Luft.
Den ganzen Weg zurück lang schweigen wir. Sonst plappern wir
immer munter drauflos. Aber jetzt ist uns nicht danach.
In der folgenden Nacht stürzen die lausigen Temperaturen wei-
ter ab - auf minus achtzehn Grad.
Früher als sonst kuschle ich mich ins warme Bett, starre das
Fenster an und den sternenleeren Himmel, dahinter.
Lange halte ich das blöde Geglotze nicht aus. Schleiche in den
Flur, zum Telefon und wähle Bittners Nummer.
> ...inner Viertelstunde. Geht klar. <
Ehe ich auflege, sagt Bittner, daß er sein Bettzeug mitbringt.
Gute Idee.
Danach ist Micha an der Reihe. > Klaro!, < meint er, als ich ihm
von Bittners nobler Spende erzähle. > Bis gleich! <
Beissend kalt ist es da draußen! Wir rennen hurtig zum Sportplatz.
Jeder mit Bettzeug. Auf, zum ollen Malte!
Bis unters Zeltdach decken wir ihn zu. Zwar deutet er öfter auf
seinen schäbigen Schlafsack, doch wir können ihn schnell über-
zeugen, daß vier Decken besser sind, als eine löchrige.
Schließlich lacht er und brummelt: So mollich warm hab ich
lang nich’ geschlafen.
Er wühlt sich tiefer in den weichen Wäscheberg; wünscht eine
gute Nacht. Innerhalb weniger Atemzüge ist er weg. Sein sanftes
Lächeln ist uns wichtig. Bei der Scheisskälte zählt jedes Lächeln.
Auf dem Nachhauseweg fühlen wir uns wirklich gut.
Allerdings ist es weniger gut, selbst ohne Bettdecke schlafen zu
müssen...Also schleiche ich mich ausnahmsweise ins Bett meiner
Eltern; schlafe, den müden Kopf an Muttis Brust geschmiegt, ein.
Einmal schubst mich Paps noch wach - offenbar, weil er irgend-
wann feststellt, daß Muttis eine Brust für den ganzen Rest der
Nacht besetzt ist. So ein Pech aber auch - für ihn.
Am nächsten Morgen knallt Paps mir eine. Nicht wegen Mutters
belagerter Brust, sondern wegen des verschenkten Bettzeugs.
> Ich bin nich’ Rockefeller, merk dir das!, < schnauzt er, bevor
er zur Arbeit hetzt.
Kommt mir irgendwie bekannt vor, der Spruch.
Mutter schimpft ebenfalls. Als ich aber von Malte erzähle, beru-
higt sie sich ziemlich schnell.
Ich schnappe nach Schulbrot und Ranzen und stapfe zur Tür.
> Da, < sagt sie. > Bring dat dem armen Kerl. < Sie drückt mir
ein zweites Stullenpaket in die Hand.
Ich geb’ ihr einen dicken Kuss - stürme hinaus.
Schule kann warten. Frühstücksservice für Malte nicht.
Auf, zum Sportplatz!
Das Zelt sehe ich schon von Weitem. Auch Malte sehe ich. Er
liegt im froststarren, weissen Gras, vor dem Zelt.
Schläft er? Hier draußen???
Ich knie mich hin; tippe ihn an.
> Malte...? <
Keine Antwort.
Das Zelt ist sperrangelweit offen. Dadrinnen sind noch sämtliche
Fressalien - heute wie gestern. Nur Bittners Lieblingsschokolade
hat er probiert. An seinem Mund klebt dunkler Schaum. Daneben
die Mundharmonika, in Erbrochenem.
Wieder ein Hustenanfall...? Bestimmt wollte er Hilfe holen; schaff-
te es aber nicht.
Ich nehme seine eisige Hand in meine. Sie wird nie mehr warm -
das weiß ich in dem Moment.
Einige Tage danach ist das Zelt am Sportplatz verschwunden.
Bittner, Micha und ich haben ihr Bettzeug wieder. Malte, den
hier sonst keiner kannte, bekommt einen schönen Stein auf un-
ser’m Friedhof. Dafür haben wir in der Schule gesammelt.
Weil das Geld noch nicht reichte, haben wir für die Leute an der
Haustür Weihnachtsgedichte aufgesagt und Lieder gesungen. So-
gar im Mückenbacher Puff haben wir gesungen. Komisch - die
Pufffrauen gaben mehr Geld, als die anderen.
Inzwischen haben wir rausgekriegt, daß Malte Lungenkrebs hat-
te und daß er neulich nacht erstickt ist. Viel mehr wissen wir nicht
über ihn. Er wohnte ja nur zwei Tage am Sportplatz.
Vielleicht waren es die schönsten zwei Tage seines Lebens.
(c) Ralph Bruse
Mittelgroße Untermieter
Seit kurzem wohnen in Mannis Fahrradwerkstatt neue Unter-
mieter....Die leben wirklich nicht schlecht - hauen sich die Bäu-
che voll, brauchen keinen müden Cent bezahlen und verschwin-
den wieder - wahrscheinlich, um ein Nickerchen zu halten. Dann
sind sie wieder da und holen auch noch die Reste aus Mannis
Blechspind. Einmal haben sie sich sogar an der Obstbowle zu
schaffen gemacht, die Manni immer rausholt, wenn es was zu
Feiern gibt. Danach waren die nutzlosen Mieter so sternhagelbe-
soffen, daß sie nicht mal mehr den Ausgang, oder besser: das
Loch in der Wand fanden, um die Kurve zu kratzen. Manni muß-
te sie nur noch einsammeln.
Okay, ich will es nicht so spannend machen...Die seltsamen Un-
termieter haben vier kurze Beine, spitze Schnauzen und fressen
alles, was ihnen in die Quere kommt. Mäuse. Mittelgroße Mäuse,
sagt Manni. Weil er ein guter Mensch und ein Tierfreund sowieso
ist, dürfen die Allesfresser auch weiterhin zu Besuch kommen
und ihm auf der Nase rumtanzen.
Die Mäusefamilie merkt natürlich schnell, daß da einer ist, der
sie ganz doll lieb hat - also dauert es nicht lange, bis sie sich ganz
im Fahrradschuppen einnistet. Warum auch woanders nächtigen,
wenn es hier viel wärmer und gemütlicher ist?
Gestern erzählte Manni, daß er ‘ne Maus - die größte und dickste
der Sippe - wahrscheinlich die Uroma, fügte er spaßeshalber hin-
zu - also, daß er die Uroma in seiner Kitteltasche fand, wo sie mal
eben ihren Mittagsschlaf hielt.
Das rührte ihn, und er wagte es nicht, den Kittel wieder anzuzie-
hen, denn alte Mäuse schlafen ohnehin schlecht und sind bei der
kleinsten Ruhestörung hellwach.
Na dann eben ohne Kittel. Er knöpfte sich das nächste, kaputte
Rad vor und arbeitete daran, bis es draußen dunkel wurde. In der
Zwischenzeit spazierte die ganze bucklige Sippe der Uroma her-
bei - sie schnupperten hier und da, turnten vergnügt in surrenden
Radspeichen, stülpten sich Putzlappen über, probten Fasching -
zwischendurch ein paar Happen zur Stärkung, und weiter geht’s
mit lustig.
Soviel Gutmütigkeit spricht sich ebenfalls in Kellergewölben der
Nachbarschaft herum. Jedenfalls hat Manni zu Feierabend an
die zwanzig Mäuse im Schuppen. > Ja nu’. Von mir aus, < nu-
schelt er nicht mehr ganz so begeistert, aber immer noch relativ
gutgelaunt.
Dann erspähen seine Augen plötzlich einen Nager, der sich am
Allerheiligsten vergreifen will - und da ist Schluss mit lustig und
guter Laune. > Den Rest vonner Silvesterbowle könnt ihr euch
wegen meiner untern Nagel(r) reißen. Aber die Kömbuddel bleibt,
wo sie is’!...Jesses, nee. Mäuse gib’s, die gib’s garnich’, < sagt er
deutlich leiser und kopfschüttelnd.
Nachher tut ihm der Anpfiff leid. Er beschließt, auch den Schnaps
brüderlich zu teilen, ehe er sich auf die Socken macht. Gegen zehn
Uhr schwankt er zur Kellertür, schnappt nach dem Kittel am Haken,
weil der mal gewaschen werden muß. Er schließt ab, schlappt die
Kellertreppe rauf; noch zwei Treppen aufwärts, dann ist er auch
schon zu Hause.
Oma Lutti ist sauer wegen der Schnapsfahne, die sie anweht. Aber
so sauer auch wieder nicht. Deshalb ausnahmsweise heute kein
Rabatz. Manni drückt ihr einen Kuss auf’s Auge und den ver-
dreckten Kittel in die Hand. Dann zockelt er in Richtung Wohn-
stube. Er ‘pflanzt’ sich, ein Lied summend, in seinen Sessel,
kramt Rauchzeug raus, stopft sich die Pfeife, steckt das Kraut an;
will es sich gerade so richtig nett machen...Da hört er einen Schrei
aus der Küche...Ein ernsthaft Besorgnis erregender Schrei, wie er
feststellt.
Ob wohl Mannis Kittel irgendwas mit dem Schrei zu tun hat?
Hat er....In der Kitteltasche lebt es nämlich. Da haust noch immer
die große, dicke Maus...Die wird wach und erschreckt sich fast
zu Tode - genau wie Oma Lutti.
Wenn sich zwei gleichzeitig erschrecken, dann muß schnell ein
Dritter her, der die Sache zur Zufriedenheit aller klärt. Manni
spurtet also rüber in die Küche.
Nach ungefähr zehn Minuten sind Maus und Luttchen wieder auf
dem Damm. Oma Lutti findet sogar langsam Gefallen an dem
putzigen Nager.
Es vergehen keine weiteren zehn Minuten und die Beiden sind
Schmusefreunde. > Sie is’n Weibchen, < meint Oma Lutti, wäh-
rend sie der brandneuen Freundin die Zitzengegend krault.
> Wir sollten ihr ‘nen Namen geben. <
> ‘n Namen? Übertreibste da nich ’n bisschen?, < wirft Manni
zaghaft ein.
Oma Lutti setzt sich entschlossen auf.
> Sie kricht ‘n Namen, weil sie auch ‘n Recht drauf hat, basta!
Und außerdem kricht se Junge. <
> Auch dat noch!...Typisch Maus. <
> Wie soll se denn nu’ heißen?!, < wettert Luttchen.
Manni pustet Rauchwolken zur Decke; denkt kurz nach; grinst
sich eins. > Nenn se doch einfach Mausi. <
> Mausi? ’n büschen mehr Fantasie könnt’ dir auch nich’ scha-
den! <
> Na, wat denn sonst?!, < beschwert sich Manni.
> Ma’ sehn. Lass mich ma’ nachdenken... <
> Also, ich find Mausi gut!, < denkt Manni laut dazwischen.
Oma Lutti fällt pardu nichts Besseres ein - also heißt die Maus
Mausi.
Überraschung!
Am anderen Morgen wuseln sieben ganz kleine Mausis am
Bauch ihrer Mutter und saugen Milch, was das Zeug hält.
Oma Lutti hat jetzt natürlich alle Hände voll zu tun. Die Winz-
linge müssen schließlich gehätschelt werden; die Mausmutter
ebenfalls, weil sie ja tierisch viel Kraft lässt, um die Kinderchen
satt zu kriegen. Oma Lutti flitzt los - Zusatzfutter besorgen. Und
dann wird aufgetischt. Haferschleim, Möhrenbrei mit Banane,
Stampfkartoffeln mit reichlich Speck drin; sogar selbstgebacke-
nen Streuselkuchen gibt es. Kurz: für ihre Lieblinge nur vom
Besten!
Manni kommen erste Zweifel, ob es ‘ne gute Idee war, das
Viech ( er nennt die Mäusemutter jetzt ‘Viech’, weil er sie nicht
mehr so lieb hat, wie anfangs) länger als zehn Minuten in der
Wohnung zu lassen, denn nach exakt dieser Zeit war Mausi Lutt-
chens beste Freundin, und das hätte er unbedingt verhindern
müssen! Außerdem wird die einst süsse Maus stündlich dicker
und fetter, während Manni merklich an Fett verliert.
Warum ist das wohl so?
Na, weil die Zweitmutter sich seitdem für die heissgeliebte Mäu-
setruppe Blasen an die Füße rennt. Da bleibt für Manni logischer-
weise nicht mehr viel Zeit übrig. Heute mittag mußte er sogar
auswärts essen - das heißt: im Flur, weil in Küche und Wohnstu-
be lauter blinde Nacktmäuse umhertappten.
> Latsch mir die Tierchen bloß nich’ platt mit deinen großen Fü-
ßen!, < mahnte Oma Lutti.
> Und denn ‘ne lauwarme Bratwurst im Stehn. Mehr gab’s nich’
für’n armen Wanderer, wie mich, < knurrt Manni, als wir Nach-
mittags in der Werkstatt zusammensitzen.
> Wie ich die Viecher hass’!, < schnauzt er plötzlich. > Ihr könnt
euch nich’ vorstell’n, wie ich die Biester hass’! <
So, wie er das sagt, glauben wir ihm jedes Wort.
Voller Mitleid bringen wir abends unsere Butterstullen in die
Werkstatt. Manni hat sich darauf gestürzt, wie Hector auf die
Bulletten. Während er grimmig vor sich hinschmatzt, wird aus
dem einst tierlieben Kerl ein mordsgefährlicher Mäusehasser.
Da hockt er nun...verstoßen, ein schwer geknickter Fahrradarbei-
ter, dem Hungertod nur knapp entwischt, kurz vor einem Heulan-
fall - und Schuld dran ist die Bande kleiner, dicker Allesfresser!
Uli Bittner löst das Problem brutalstmöglich auf seine Art. Schon
halb zur Tür raus, ruft er: > Ich hol’ Hermann. Der regelt das! <
Micha Sommer kriegt heisse Ohren. > Den Kater? <
> Jo, genau den!, < kommt es kurz und schmerzlos zurück.
Sprach’s, und holt Hermann, den besten Mäusejäger weit und
breit. > Der wirds schon richten, < prahlt Bittner und lässt den
Kater vom Arm.
Hermann legt sich auf die Lauer.
Keine Maus in Sicht.
Wir warten gespannt.
Wir warten ganz schön lange - und nicht mehr so gespannt.
Dann sind wir doch wieder gespannt, weil es in der Ecke, wo
lauter Putzlumpen liegen, verdächtig raschelt.
Hermanns Schwanz steht steil nach oben. Er ist angriffsbereit.
Gleich ist die Maus zu sehn...
Da ist sie!
Hermann springt vor...dann zurück...noch weiter zurück...faucht.
Schließlich zieht er den Schwanz ein und haut einfach ab - offen-
bar, weil er so ’ne große Maus noch nie gesehn hat.
Wir staunen auch nicht schlecht. Die Maus ist wirklich riesig!
> Iiihh, ne Monstermaus!, < kreischt Biene und klammert sich
an mich.
> Monstermaus?, < frage ich sicherheitshalber nach. > Die frisst
doch keine Kinder, ne? <
> Manchmal schon, Schisser, < meint Bittner, den scheinbar
nichts erschüttert. Er beugt sich vor. Noch weiter...Die Riesen-
maus tappt wie blind im grellen Neonlicht herum.
> Einmalicum Spektaculum!, < flappst Bittner und lehnt sich läs-
sig zurück. > Kannst auch Ratte dazu sagen... <
Bei dem Wort ‘Ratte’ kriege ich plötzlich so kalte Füße. Biene
auch. Wir beschließen spontan, uns unauffällig zu verdrücken.
Aber so leicht ist das nicht, denn die Maus, die in Wahrheit ‘ne
astreine Ratte ist, spaziert ebenfalls dahin, wo wir hinwollen -
nämlich zur Tür.
Biene schüttelt sich. > Is’ die eklich! <
> Jo, ‘ne Schönheit isse nich’, < bestätigt Bittner. Sein Grinsen
wirkt ziemlich link. Er lässt sein rechtes Bein hin - und herbau-
meln - bereit, dem hässlichen Nager sonstwohin zu treten.
In Manni, der die ganze Zeit lang eher still dasitzt, erwacht ver-
lorengeglaubtes Mitgefühl. Er schnappt sich Bittners Bein.
> Komm, lass dat Viech in Ruh’...<
Bittner lässt es in Ruh - wenn auch unter schwachem Protest.
Matschke, der Hauseigentümer, hat Wind von der Ratteninva-
sion gekriegt. Er bestellt sofort die Kammerjäger.
Am nächsten Morgen rücken sie an.
Die Giftkanonen leisten ‘ganze Arbeit’. Binnen einer Stunde
wird das Rattenvolk komplett abgemurkst. Oder sagen wir mal:
fast komplett...Oma Luttis Lieblinge werden größtenteils geret-
tet, weil die zum Glück gerade zwei Etagen höher umherwuseln,
während unten, im Keller, die Jäger wüten. Davon weiß Manni
erstmal nichts - bis zu dem Moment, als er - Tage später - früh-
morgens, relativ traurig vor sich hinschraubt - beobachtet von
der tapferen Rattenmutter, die durch’s Loch in der Kellerwand
blinzelt.
Fast wär ihm der Schraubschlüssel vor Freude aus der Hand ge-
fallen!
Er tätschelt das zutrauliche Tier und entschuldigt sich mindestens
zehnmal für das Killerkommando, neulich.
Der zutrauliche Vielfraß verschwindet einstweilen - kommt aber
wieder. Erst allein, danach in Begleitung.
Als sie immer mehr werden - das heißt: viel, viel mehr als eine
Rattenmutti, plus sieben Kinderchen...Als sich zwanzig, vielleicht
auch dreißig mittelgroße Untermieter in der Werkstatt breitma-
chen...da freut Manni sich doch nicht mehr. Er jagt die ganze ver-
fressene Rattenbagage mit Gebrüll davon.
Und dann kommt ihm endlich die Erleuchtung....Er mauert das
Loch in der Wand zu.
Schotten dicht.
Aus, die Maus.
Geschichte und Bild: (c) Ralph Bruse
Groß, stark, braun
Fünf Uhr, morgens.
Auf dem Jahnplatz reden zwei Männer laut miteinander. Viel-
leicht heißt der eine Mann Iwan und der andere Kolja. Iwan ist
der Boss vom Wanderzirkus. Kolja ist Tierpfleger. > Schaff mir
den Bären aus den Augen!, < schnauzt Iwan. Kolja schluckt sei-
ne Wut herunter. Er ahnt schon, was gleich kommen wird. Trotz-
dem wagt er den letzten Versuch. > Mischa ist alt, < entschul-
digt er das launisch gewordene Tier im Zwinger.
Als der Bär seinen Namen hört, öffnet er die Augen. Nur die Au-
gen - sonst bleibt er still liegen, den mächtigen Schädel an die
Gitterstäbe gepresst. Kolja geht näher zum Zwinger, krault dem
Bären Kopf und Nase, in der ein Eisenring steckt.
> Soll ich ihn...? < Seine Stimme zittert.
> Du sollst!, < schnauzt der andere. > Undzwar schnell, weil wir
spätestens um sieben hier abziehn! <
Der Boss verschwindet. Kolja starrt ihm nach, bis die Tür des
Wohnwagens zukracht. Am liebsten würde er dem Scheisskerl
eine reinhaun. Aber erstens hat er dann keine Arbeit mehr, und
zweitens ist die Anweisung ein Befehl, den er auszuführen hat.
Mischa erschießen....Seine Wangen werden nass. Schnell wischt
er die Tränen weg. Er fährt den Zuglaster vor, lässt die Hänger-
kupplung einrasten.
Ehe er losfährt, holt er das Gewehr.
Gegen halb sechs erreichen sie eine öde Gegend am Ortsrand.
Ein Schrottplatz. Kolja blickt prüfend umher. Niemand zu sehen.
Er steigt aus - stapft drei, vier Meter und öffnet den Zwinger.
Mischa hat keine Lust, auszusteigen. Ahnt er was?
Kolja rammt ihm den Gewehrlauf in die Seite. Der Bär brummt
eher müde, als böse. Schließlich kommt er doch heraus - lang-
sam, japsend - ein alter Zirkusbär, der nicht mehr tanzen kann,
oder will.
Da hinten geht die Sonne auf. Hier ist noch Nacht. Kolja war-
tet, bis das Tier sich zu ihm umdreht. Jetzt treffen sich ihre Blic-
ke....Das macht es nur noch schlimmer!
Er reisst das Gewehr hoch - zielt. Mischa taumelt hin - und her.
Auch das Gewehr taumelt. Nicht wegen des schwankenden Bä-
ren - der ist leicht zu treffen. Es ist der Mut, der Kolja verlässt.
Nocheinmal packt er das Gewehr fester - will es endlich hinter
sich bringen....kann er aber nicht.
Er flucht und stampft auf. Um sich wenigstens spätere Schwie-
rigkeiten zu ersparen, schießt er zweimal in die Luft. Dann fährt
er zurück, zum Jahnplatz.
Kurz nach sieben Uhr zieht der Wanderzirkus weiter, in die
nächste Stadt.
Morgen ist Mannis Geburtstag. Ich überlege schon seit Tagen,
was man ihm schenken könnte. ‘ne neue Pfeife hat er schon, und
Schnaps kriegt er nicht - jedenfalls nicht von mir. Eigentlich will
er auch garnichts geschenkt haben, aber Geburtstag ohne das
kleinste Geschenk, finde ich blöd. Also piesacke ich ihn solange,
bis er zwei Wünsche rausrückt.
> Ja nu’, du Nervensäge, < sagt er. > Wenn’s dir denn besser
geht...Ich könnt ‘n paar Schutzbleche brauchen, und Lenker für
meine Drahtesel. <
> Wird sofort besorgt!, < rufe ich und jage zur Tür raus.
Unterwegs läuft mir Uli Bittner über den Weg. Der Arme muß
Brötchen holen. Was ihm stinkt, finde ich widerum gut. Habe so-
wieso keine Lust, schon frühmorgens seine Sprüche von geilen
Weibern zu hören. In letzter Zeit spult er das Thema praktisch
ununterbrochen ab. Klar doch, ich rede auch gern über Mäd-
chen, doch Bittner redet nicht nur drüber - er baggert auch wie
bekloppt - leider ohne nennenswerten Erfolg. Andererseits bin
ich manchmal schon neidisch auf seine große Klappe - und dann
wieder nicht, weil es ja - siehe Bittner - nix bringt. Außerdem
bin ich Biene treu. Die würde mir ‘helfen’, wenn sie mich beim
Mitbaggern erwischt. Wie ich schon sagte: nur Mädchen im Kopf,
der Uli.
> Eeh, nachher is’ Miezenparteitag am Mühlenteich!, < blökt er
im Vorbeisausen. > Kommste? <
> Ma’ sehn, < rufe ich und verdufte schnellstens, Richtung
Schrottplatz.
Schutzbleche braucht Manni. Und Lenker. Na denn, Augen auf
und ab, in die Müllberge.
Unser Schrottplatz bietet so ziemlich alles. Öfen, Kessel, Wan-
nen, Waschbecken, Reifen, Räder mit Achten drin, lange Rohre,
kurze Rohre. Schrott eben. Ab - und zu gibts umsonst ‘ne olle
Unterhose dazu, oder plattgelatschte Schuhe. Gerümpelsammler,
was willste mehr. Hier ist alles für nix. Fast alles - denn Mannis
gewünschte Schutzbleche und Lenker kann ich nicht finden.
Mist, elender!
Was solls. Ein guter Sammler sucht weiter - solange, bis er was
ähnlich Passendes findet.
Leider finde ich nur Schutzbleche für Mopeds und Lenker für Au-
tos. Macht ja nichts, denn Fahrräder mit Autolenker und Moped-
blech sind mal was ganz anderes und garantiert die Renner der
nächsten Saison!
Beladen mit Superideen und schwerem Blech, trete ich den Rück-
weg an, oder besser gesagt: ich will den Rückweg antreten....Da
versperrt mir urplötzlich ein riesiges, unbekanntes Wesen Sicht
und Weg. Es steht direkt vor mir...Groß, stark, braun, kann ich
noch denken. Muß ein Bär sein....Hoffentlich ist er satt!, läuten
noch von fern Alarmglocken.
Dann verstummen die Glocken und sämtliche Lichter fallen aus.
Ich kippe um.
Irgendwann stößt mich jemand an.
Zaghaftes Blinzeln....Da ist es schon wieder, das große Wesen...
Der Bär! Der sitzt ganz friedlich da und beobachtet mich genau-
so neugierig, wie ich ihn.
Augen zu, ganz schnell!
Eine Weile lang kann ich so tun, als wär ich toter, als tot. Dann
merkt der braune Zottel, daß ich flunkere und legt mir seine
Pranke auf den Bauch. Zum Glück hatte ich inzwischen eine län-
gere Verschnaufpause, um massenhaft Fliehkräfte zu aktivieren.
Ich springe also hoch - der Bär springt zurück - dann renne ich
die ersten hundert Meter in garantiert neuer Weltrekordzeit, und
die zweiten Hundert immerhin noch in Landesbestzeit. Erst da-
nach lasse ich schwer nach, weil die Beine zu eiern anfangen.
Literweise Schweiss verloren, erreiche ich den Hof mit Müh und
Not (da war doch was...ach ja, Erlkönig); pardon: den Fahrrad -
keller erreiche ich mit Müh und Not - im Hals, die Puste, war tot.
Spaß beiseite. Da sitzt also Manni in der Werkstatt und schraubt
seelenruhig vor sich hin.
> Nanu, < meint er. > Sind Geister auf’m Schrottplatz? Siehst
aus, als wär dir einer direkt inne Arme gefalln. <
Erstmal tief Luft holen.
> Gefall´n bin ich! Vor Schreck! <
> Wieso? <
> Weil da ‘n Bär ist! <
> Jo, < sagt Manni lässig. > Die Leute schmeißen wirklich allen
Schiet weg, ne. <
> Da is’n Bär!, < wiederhole ich schnaufend.
> ‘n Bär, ach nee... ‘ n großer Bär? <
> Riesig! <
> Wie riesich? <
> Ungefähr so...<
> Zwei Meter? <
> Mindestens. Vielleicht auch drei! <
Manni legt sein Werkzeug hin.
> Drei Meter? Mein lieber Scholli. So’n großen Teddy siehste
auch nich’ alle Tage. <
Er kratzt sich am Hintern.
> Nee, wat die Leute so alles wechschmeißen. <
> Der Bär ist echt!, < versuche ich ihm klarzumachen.
> Klar is’ der echt. Glaub ich dir ja. Und so groß, ne? <
Er streckt sich, daß es knackt.
> Nu’, denn muß ich wohl mit anpacken, wenn der Teddy so’n
Ömmes is’. <
> Der Ömmes lebt!, < schreie ich fast.
Manni denkt darüber nach. Dann fragt er sicherheitshalber, ob
ich ihm eventuell ‘nen Bären aufbinden will?
> Will ich nicht!, < schreie ich laut und deutlich. > Da is’n rich-
tiger, wilder Bär auf’m Schrottplatz! <
Endlich scheckt Manni, was Sache ist. Zwar ist er immer noch
skeptisch, deshalb kommt er auch nur langsam in die Gänge.
Könnte auch Vorsicht sein. Schließlich besucht man nicht jeden
Tag Bären in freier Wildbahn. Vielleicht sagt er sich auch, daß
man dem Rumtreiber - wenn er denn echt ist - noch ‘ne allerletz-
te Chance geben sollte, die Kurve zu kratzen. Manni hat jeden-
falls alle Zeit der Welt, gemütlich die Straßenbotten an - und den
Arbeitskittel auszuziehn. Gaaaanz langsam hängt er den gelieb-
ten Kittel auf. Noch langsamer - sage und schreibe: fünf Minu-
ten! - pult er an seinen Schnürsenkeln herum.
Nach vielen weiteren Denkminuten ringt er sich endlich zum
Abmarsch durch. Insgheim hofft er wahrscheinlich noch immer,
nachher einen Riesenbären aus Plüsch vorzufinden.
Doch die Hoffnung schwindet bedrohlich, je öfter die Nerven-
säge - also ich - schwört, daß oben, im eigenen Kopf, garantiert
alles richtig tickt.
Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch erreichen wir die Gefah-
renzone. Der Schrottplatz ist voller Schrott - aber kein Bär ist zu
sehen.
Doch - da hinten schiebt sich ein brauner Kopf in die Höhe.
Manni staunt nicht schlecht. > Jesses, den seine Rübe is’ ja
dreimal so groß, wie meine! Und ich Dussel denk, in Bukow
gib’s seit hunnert Johr keine Honichschlecker mehr. <
> Siehste mal. Hier wohnt noch einer, < antworte ich nicht ohne
Stolz.
Erstmal in Deckung gehen. Und beobachten, was der Bär macht.
Weil der nichts macht, schleichen wir näher ran. Noch näher...
Plötzlich reckt sich der wandelnde Koloß zu voller Größe - fängt
fürchterlich an, zu brüllen!
Das halten unsere Nerven nicht lange aus. Nix wie weg! Ich
schnappe nach Mannis Hand; ziehe ihn mit, weil es mit seiner
Rennerei nicht mehr so dolle ist.
Erst am Mühlenteich stoppen wir - fühlen uns dort schon deut-
lich sicherer.
Weil Osterferien sind und die Sonne brennt, lümmeln sich mor-
gens schon Leute am Wasser. Auch Biene. Sie spielt Gitarre.
Nicht weit weg von ihr hockt Uli Bittner. Er rupft geknickt But-
terblumen aus der Wiese, weil Micha Sommer ausgerechnet das
Mädchen knutscht, das Bittner vorher wie blöd angebaggert hat.
Biene sieht uns zuerst und winkt. Sie greift sich die Klampfe;
rennt mit wehenden Haaren den Abhang hoch, uns entgegen.
> Am Schrottplatz is’n Bär!, < pruste ich gleich los.
Biene nimmt es locker.
> ‘n Bär. Jaja. Will ich sehn! <
Manni will uns noch aufhalten, kann er aber nicht.
Er humpelt uns nach.
Diesmal entdecken wir den Bär sofort. Der sitzt oben, auf einem
rostigen Eisenofen und knabbert an irgendwas Essbarem herum.
Brot. Schimmeliges Brot.
Manni kommt angehumpelt. Er ordert sofort besseres Futter.
Ich renne los.
Max-Pietsch-Straße.
Oma Lutti hat Mühe, mein Schnaufen und Gestammel zu ent-
rätseln.
Schließlich nickt sie, packt Fressalien in ihren Einkaufskorb
und kommt gleich mit.
Unterwegs stoßen wir auf Uli Bittner und Micha, plus neuer
Freundin, und die wollen auch noch mit.
Von mir aus.
Als wir am Schrottplatz eintrudeln, der nächste Schreck...!
Jetzt sitzt Biene oben, auf dem Rostklotz von Ofen, und klimpert
Gitarre. Und gleich daneben dreht sich der döschige Bär sachte
im Kreis. Er tanzt. Der Bär tanzt!
Ich stehe da, reibe mir die Augen - zweidreimal. Danach tanzt
der Bär immer noch.
Erst als Biene kurz mit dem Spielen aufhört, hört auch das Tan-
zen auf. Es scheint so, als würde die Klampfe in ihren Händen
bestimmen, wann der Bär sich dreht. Jedenfalls zuckt er jedes
Mal zusammen, wenn Biene erneut in die Saiten greift, als hätte
er großen Bammel vor der Musik, oder genauer: ‘ne Scheiss-
angst!
Am nächsten Tag - genau an Mannis Geburtstag - kommt Mi-
scha, der Zirkusbär, in einen Gnadenpark für Tiere, ganz in der
Nähe. Eigentlich geht es ihm da gut. Er kriegt reichlich zu fres-
sen - wird dicker und dicker. Wir besuchen ihn manchmal. Meis-
tens hockt Mischa eher traurig da. Wenn ich ihn so dahocken seh,
denke ich automatisch an den Bericht, neulich, in der Glotze....
Da waren acht Männer. Und ein gefesselter Bär....Zuerst rissen
sie dem Bären ohne Betäubung alle Zähne und Krallen raus. Da-
nach hievten sie ihn, gefesselt am Holzpfahl stehend, auf eine
Eisenplatte und machten Feuer darunter an. Der Bär versuchte
wegzulaufen - er rannte und rannte - bis er sich die Tatzen ver-
brannte. Einer der Typen lachte und spielte Musik. Der festge-
bundene Bär, der nur seine Tatzen bewegen konnte, brüllte vor
Schmerz - rannte immer auf der Stelle - die Musik in den Ohren -
immer die verdammte Musik dazu...Das haben die Männer wo-
chenlang wiederholt, bis der Bär von allein tanzte, wenn er nur
die Musik hörte.
Biene spielt total gern Gitarre. Trotzdem hat sie sie neulich ver-
schenkt.
Verschenkt. Einfach so.
(c) Ralph Bruse
Dreizehnter April
Den Tag vergesse ich nicht.
Ein Freitag.
Frühmorgens der erste Schreck... Micha Sommer pfeift mich raus, zur
Schule.
Wir stapfen gähnend los - kommen keine hundert Meter weit... An der
nächsten Straßenecke steht der gelbe Streukasten. Eigentlich nichts beson-
deres - der steht immer an der Ecke - aber diesmal ist der Deckel vom Kas-
ten nicht ganz drauf - und da, wo er nicht ganz drauf ist, hängt ein Arm
heraus.
> 'n Toter!, < schreit Micha aufgeregt und macht sicherheitshalber ei-
nen großen Bogen um die Plastikkiste.
> Und wenn nich'?, < halte ich dagegen und lach mir eins.
Der Arm kommt mir irgendwie bekannt vor - und im gleichen Moment
weiß ich auch schon, wem der gehört.
> Keine Leiche. Nur Manni...<
Außerdem steht groß auf dem Deckel: Nur für Mieter der Bauhilfe.
Manni ist ja Mieter bei denen, also ist er vorübergehend eingezogen.
Bis nach Hause hat er's wohl nicht mehr geschafft. Zweihundert Meter
sind ja sooo weit!
In letzter Zeit passiert das öfter. Mal ziehen wir Manni aus einem Gra-
ben. Manchmal liegt er hackevoll zwischen den Aschtonnen, und ein-
mal sogar mitten auf der Wiese, vor'm Supermarkt. Er ist eben ein ech-
ter Tramp, der gern draußen schläft.
Nee, im Ernst: seine Trinkerei ist wieder stark im Kommen und das
macht uns reichlich Kopfschmerzen.
Michas Schreck lässt nach.
Wir holen Manni aus dem Sandkasten und buckeln ihn nach Hause.
Was für eine elende Schufterei!
An seiner Haustür angekommen, überlegen wir, ob Manni besser
nach oben, oder kellerwärts verfrachtet werden sollte.
Abwärts ist leichter. Außerdem macht Oma Lutti garantiert Rabatz,
wenn die Wohnung wie 'ne Schnapsfabrik riecht.
Also, runter, in den Fahrradkeller mit ihm.
Manni rülpst andauernd und er nuschelt mit sich selbst. Leider verste-
hen wir nur Bahnhof; rempeln die Werkstatttür auf und packen Manni
auf die Holzbank, auf der wir sonst sitzen.
Im Keller ist es ziemlich kalt. Decken gibt es ebenfalls nicht. Also dec-
ken wir Manni mit sämtlichen, schmutzigen Putzlappen zu, die wir fin-
den können.
Er merkt nichts und schläft weiter wie ein Höhlenbär im Winter.
Geschafft. Wir sind zufrieden; rennen die Treppe rauf, Richtung Schule.
Unterwegs fragt Micha besorgt, ob wir nicht schwänzen sollten, wegen
Manni.
Ich bin dafür. Doch dann fällt mir ein, daß uns keiner eine Entschuldi-
gung schreibt - außer Manni, aber der ist zum Schreiben viel zu groggy.
Schade. Schule schwänzen fällt also flach.
Wir ziehen weiter.
Kurz nach acht.
Biostunde mit Frau Suppe. Sie malt lauter Schweine, Kühe und Scha-
fe an die Tafel und erzählt was über Nutz-und Haustiere. Zum Schnar-
chen langweilig! Gleich fallen mir die Äuglein zu. Da bullert es laut an
der Tür.
Doppelter Schreck... Ich reiße die Augen auf. Noch weiter... Die Klas-
senzimmertür öffnet sich...Ich glotze in den Türspalt, aber da kommt
nichts herein... jedenfalls nicht gleich.... Was ist das...?
Ein dicker und breiter, vornüberhängender Kopf...brauner Pelz. Ein
Hund. Marke Bernhardiner... Benni! Und dahinter ein Mädchen...
Heike?
Nanu und hurra! Heike ist wieder da!
Sie lacht wie früher. Nur sieht sie jetzt ganz anders aus. Nicht mehr so
hübsch, finde ich. Ihre Haare stehen zu Berge - sind jetzt knallbunt.
Die schönen blonden Locken von früher - weg. Ihr Gesicht - wie ein la-
chender Tuschkasten. Augen, Wimpern, Lippen, Wangen - alles ist fett
angemalt. Was soll's - ihr muß es gefallen - nicht mir.
Frau Suppe zieht 'ne Flunsch.
> So geht das nicht!, < schimpft sie. > Zu spät kommen, und dann noch
den Hund anschleppen! Nein, so geht's wirklich nicht, Fräulein! <
Ehe sie ihre Predigt - von wegen Hundeverbot in der Schule, und so,
beenden kann, kräht Micha aus der vorletzten Reihe: > Wir sind doch
gerade bei Haus - und Nutztieren, Frau Suppe. Und Benni gibt 'n prima
Probeexemplar ab, oder etwa nich'?! <
Gibt er - aber Frau Suppe ist heute schlecht gelaunt - und Benni, das
real existierende Riesenhaustier ist ihr scheinbar egal.
> Der Hund verschwindet auf der Stelle!, < giftet sie eine Tonart höher
und lauter.
> Okay, krieg dich wieder ein, Suppenhuhn!, < erwidert Heike ziem-
lich unbeeindruckt. Sie greift nach Benni, knallt die Tür zu, und weg
sind alle beide.
> Suppenhuhn? Sagte das Fräulein Suppenhuhn?, < japst Frau Sup-
pe mit Schnappatmung.
Sagte sie. Und Frau Suppenhuhn, pardon: Suppe holt vier, fünfmal
tief Luft, ehe sie wieder besser bei Stimme ist.
> Hefte raus!, < keucht sie. > Wir schreiben eine Arbeit! <
Ihr Gesicht hat jetzt was von der bösen Hexe Babajaga.
> Wer wird denn da beleidigt sein?!...Also, ich für meinen Teil
liebe Klassenarbeiten!, < kräht sie, wieder voll bei Stimme, umher.
Und wir erst - Suppenhuhn!
Nachmittags besuchen wir Manni. Der hat Kopfsausen und auch
sonst alle Krankheiten, die vom vielen Schnaps kommen.
Die Frage nach Heike kann er gerade noch registrieren.
> Nee, hier war dat Mädel nich', < brummt er. > Hätt' ich doch ge-
merkt, so 'n leichten Schlaf, wie ich hab! <
Nix hat er gemerkt, denn da raschelt ein Blatt Papier unter seinen
Füßen, das ihm vor lauter Putzlappen garnicht auffiel.
Ein Fahrrad weniger. Kriste wieder.
Bin mit Benni am Mühlenteich.
Kusskuss Heike
Endlich ist Manni ganz wach.
> Heike? Wat macht die denn hier? <
Er kratzt sich ausgiebig hinter den Ohren.
> Kriegen die neuerdings Urlaub vom Heim? <
Seine Mundwinkel stürzen ab.
> Jede Wette, dat Mädel is' abgehaun! <
Genau dasselbe denken wir auch. Und je länger wir drüber nach-
denken, desto mehr Kopfsausen kriegen wir. Ihre Mutter ist näm-
lich immer noch mit dem Zweimetertyp zusammen, der seine Wut
gern an Mädchen ablässt. Dahin zieht es Heike bestimmt nicht.
Wohin sonst? Langsam kommt er - der nächste Schreck. Sie ist für
immer weg - abgehaun mit Benni und mit Mannis Fahrrad...Und
nachher kommt bestimmt ein Polizist, der sagt, daß das Fahrrad
im Mühlenteich schwimmt, und Heike und Benni auch...
Ist natürlich ziemlich bekloppt, sowas zu denken. Doch wenn man,
wie Heike, schon morgens von der Schule fliegt, und der letzte ret-
tende Engel - also Manni - sternhagelmüde im Keller liegt - dann
könnte das die übernächste, diesmal schlimme Überraschung sein.
Wo soll sie auch sonst hin, mit Benni?
Zum Mühlenteich, logisch. Aber, der Mühlenteich ist ganz schön
tief....
Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert, denn Heike, plus Benni,
tauchen kurze Zeit später wieder auf - zwar mit kaputtem Rad, aber
sonst heil.
Weil Manni sich mehr über das Wiedersehn, als über die Acht im Vor-
derrad freut, lädt er uns alle spontan zum Imbiss, am Hafen, ein.
Rein zufällig dämmert ihm, daß er ja total pleite ist - wie immer, oder
meistens.
Wir kennen seine Masche, sind aber nicht sauer, deswegen.
Ratet mal, wer uns die Frühlingsrolle am Imbiss serviert?
Hu, der Chinese. Der hat seinen Andenkenladen letzten Monat zu - und
den Fressstand aufgemacht.
Weil wir keine Lottomillionäre sind, und weil Hu ziemlich viel Geld mit
Flülingslollen und Kung Fu-Suppen verdient, kriegen wir alles zum
Freundschaftspreis - für die Hälfte, genauergesagt, und ein Stieleis pro
Nase umsonst. Voll bezahlen müssen nur Biene und Bittner, weil die Bei-
den Zuhause schon Taschengeld kriegen.
Manni hat riesigen Hunger. Er bestellt sich einen Drachenteller (Reis
mit Pfeffersoße und Schweinefleisch. Sauscharf.) und dazu einen ' Feu-
erlöscher.'
Den Feuerlöscher holt Hu nicht raus - dafür 'ne Flasche Pflaumenwein.
> Nee, nich' schon wieder!, < stöhnt Manni und schüttet sich den edlen
Mist, wie er sagt, ruckzuck in den Bauch.
Scheint ihm zu schmecken. Er schiebt das Glas zurück.
> Nochein' zum Abgewöhnen. <
Hu ist clever.
> Flümliwein ist heilig Wein, < erklärt er. > Immer nur ein Schluck tlin-
ken. EinTag, ein Schluck, ein Tag, ein Schluck.... <
Manni denkt eine Weile darüber nach. Er plündert seinen Drachenteller
und redet beim Schmatzen.
> Sag ma', wenn ich (er zählt zurück)... Wenn ich nu' aber sechs Tage
nich' hier war, denn hab ich doch logischerweise Anspruch auf sechs aus-
stehende Flümlies, ne? <
Hu lässt sich nicht nervös machen.
> Wenn Fleund sechs Tage nicht hier, dann muß andele Fleund dafür
Flümlie tlinken. <
> Aha. <
Manni ist beeindruckt - und auch ein bisschen geknickt.
> Dat heißt denn wohl auf Klardeutsch: 'n And'rer kann sich hier an
meiner Stelle jeden Tach so 'n Flümli abhol'n, wenn ich nich' beizeiten
antanz', ne? <
Hu nickt.
> Ganz schön Beschiss, < motzt Manni.
Abends fahren wir mit Opa Pauls Kutter raus, aufs Meer.
Heike hat natürlich viel zu erzählen - vom Heim, und daß sie nur mal
so abgehaun ist, um alle Bukower Freunde wiederzusehn.
Lieb von ihr. Dafür versprechen wir ihr, sie morgen früh zum Bus zu
bringen, der in die Stadt zurückfährt. Und Heike verspricht, frühestens
erst wieder in fünf, sechs Monaten - oder Wochen (sie kichert) aus
dem Heim abzuhauen.
Als das gesagt ist, sackt die gute Stimmung rapide.
Biene umarmt Heike.
Sie weinen.
Wir Jungs heulen mit.
Opa Paul und Manni setzen sich zu uns und muntern uns auf, bis wir
endlich wieder lachen, oder uns gruseln, weil Opa Paul anfängt, 'blut-
rünstige' Spukgeschichten zu erzählen.
> Einmal, < sagte er, > fuhren wir auf einem Frachter nach Island....
Im dichten Nebel rammte unser Schiff einen Eisberg. Das Schiff ging
unter, und nur sieben Mann retteten sich auf den Eisberg. Wir hatten
nix zu beißen und wir froren uns fürchterlich was ab. Über uns, in der
klaren Luft, kreisten zwei Vögel. Einer von den beiden war schwarz
und der andere war weiß. Der schwarze Vogel mochte drei Meter lan-
ge Flügel gehabt haben. Der weisse Vogel war deutlich kleiner.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, stürzte sich der große auf den klei-
nen Vogel - wahrscheinlich, um ihn zu fressen. Doch der kleine, weis-
se Vogel kämpfte wie ein riesengroßer Vogel und riss dem Schwarzen
alle Federn raus. Als der große Vogel sah, daß er jetzt auch weiß wie
der Andere war, fiel er in Ohnmacht und vom Himmel - direkt in die
Arme eines Matrosen. Der saß da und wollte den Vogel nicht essen,
obwohl er mächtig Hunger hatte. Also aßen die anderen sechs Matro-
sen den Vogel, der vom Himmel gefall'n war...Kurz danach wurde den
sechs Matrosen ganz schlecht. Der Vogel bekam ihnen nicht, und so
quälten sie sich, bis sie, einer nach dem ander'n starben...Nur der
eine lebte noch. Er wurde gerettet, weil der weisse Vogel einem an-
dern Schiff den Weg zum Eisberg voranflog.
So weit, so gut. Nee, nicht gut...Bei der Weiterfahrt rammte das Ret-
tungsschiff auch einen Eisberg, ganz in der Nähe, und ging unter. Nur
sieben Seemänner retteten sich auf den Eisberg... Wieder tauchten
zwei Vögel auf - schwarz und weiss....
Doch dann passierte nicht dasselbe wie schon mal, sondern was ganz
anderes... Der größere Vogel ließ ein Ei fallen. Es schlug auf; zerplatz-
te, und dadrin war kein Eidotter, sondern ein lebendes Junges. Die
Männer steckten das Junge abwechselnd in die Hosentaschen, um es
warm zu halten...In zwei Tagen wuchsen dem Vogelkind vier Meter
große Flügel. Jetzt passte es natürlich in keine Hosentasche mehr.
Dafür wärmte es die sieben Männer - gluckte wie eine Henne auf
ihren Küken - tagelang.
Alles schien gut zu werden...Bis das nächste Schiff kam, auf einen
Eisberg fuhr und unterging. Nur sieben Seeleute.... na, das wisst Ihr
ja schon. Jedenfalls sitzen sie heute noch da oben, im Nordmeer, fest.
Praktisch seit 'ner Ewigkeit....
Opa Paul weiß nicht mehr weiter, mit seiner Phantasie. Also macht er
erstmal Schluss. Er merkt, daß wir ihm die Storie irgendwie nicht ab-
nehmen, aber das macht ihm wiederum nichts aus.
> Kann nich' sein, < meint Bittner. > Die erfriern doch bei der Schwei-
nekälte, bevor sie überhaupt richtich Kohldampf kriegen. <
Opa Paul spinnt zwar was das Zeug hält, aber auf'n Kopf gefallen ist
er trotzdem nicht. Er grinst schief und brummelt: > Könn' Geister
frier'n...? <
Brrrr. Geister nicht. Aber wir!
Was dann folgt, ist der dritte, oder vierte und hoffentlich letzte Schreck
dieses Tages.
Der Motor des Kutters, auf dem wir uns befinden, säuft bald ab, weil
kein Diesel mehr im Tank ist.
> Vergessen, < brummt Opa Paul, völlig die Ruhe selbst, und zieht den
Nasenrotz hoch.
Na super. Jetzt sitzen wir mitten in der Ostsee fest; weit weit weg von
festem Land; vielleicht sogar vor Island, oder Grönland. Dicker Nebel
rückt an. Von Eisbergen umzingelt - und irgendwo, da draußen, sind
sieben ruhelose Geister...
Unser Glück, daß wenigstens zwei lange Paddel im Kutter sind.
Und das Unglück?
Weil wir schon groß und stark sind, müssen Bittner, Micha und ich
abwechselnd paddeln. Vier Stunden lang paddeln - da kann man ganz
schön stinkig werden - vor allem dann, wenn Sabines' schusseligem
Opa kurz vor der Hafenschleuse einfällt, daß er ja doch noch einen Ka-
nister mit Diesel im Laderaum stehn hat.
Opas gibts...
Na ja, nach soviel dreizehnter April kann der Vierzehnte nur besser
werden.
Mit Monsterblasen an den Händen, und mit dramatischen Muskelzuc-
kungen in Arm - und Brustgegend betreten die 'drei tapferen Ruderer'
endlich wieder festen Boden.
Kaum an Land (der vierzehnte April ist erst fünf Minuten alt) säuselt
Biene mir zur Abwechslung mal was Tröstliches ins Ohr.
> Kannst heute bei mir schlafen. <
Das finde ich toll.
Nicht so toll finde ich ihre Frage, ungefähr eine Minute später:
> Stört's dich, wenn Heike auch bei mir schläft? <
Geschichte & Grafik: (c) Ralph Bruse
Geld wie Heu
7, 8, 9, 11, 12, 13. Zusatzzahl: 14.
> Die Zahl'n werden auch immer bekloppter, < staunt Manni.
Während er sich mit seinem Lottoschein amüsiert, beißen wir gie-
rig in Oma Luttis Appelkuchen.
> Also, eins is' ma' klar... Wenn dat Frollein (er meint die Fernseh-
Fee) nich' so hübsch wär, würden die schon lange nix mehr von mir
kriegen, die Lottofritzen. <
Er lehnt sich zurück.
> Na gut, dies eine Mal lass ich mich noch verkackeiern. Aber näch-
ste Woche rollen die Rubel hier an. Max-Pietsch-Straße. Schreibt
euch dat dick hinter die Ohrn, Kameraden! <
Er seufzt.
> Und wenn nich', denn eben nich'. <
Als die Fernsehfee den Gewinnern honigsüß lächelnd gratuliert und
den Verlierern Hoffnung für nächsten Samstag macht, ist Manni
schon besser gelaunt.
> Nett isses ja, dat Frollein, ne? Sag doch ma' wat, Luttchen...! <
Oma Luttis Augen verengen sich. Das bedeutet nichts Gutes.
> Weißt du was? <
> Nee, wat denn? <
> Eben. Nix weißte. Das schöne Frollein grinst nämlich nur so nett,
damit Hornochsen wie du nächste Woche auch wieder sechs Kreuz-
chen machen. <
So doof ist Manni auch wieder nicht. Und den 'Hornochsen' nimmt er
ihr übel.
> Na und! Dat bisschen Luxus gönn ich mir, ob dir dat nu' in' Kram
passt, oder nich'!, < braust er auf.
> Nu' krich dich ma´ wieder ein, < will Oma Lutti einlenken, doch
Manni will sich noch nicht beruhigen.
> Nee, krich ich nich'! Außerdem mach ich nächste Woche noch 'n
Schein extra. Ein für mich und ein für die Kinners. Und wenn wir
gewinn', denn feiern wir bis wir fertich sind, und dat kann lange
dauern! <
Gute Idee, finden wir. Das kann er der Omi aber auch schonender
sagen - nicht so direkt.
Wunderbarerweise bemerkt er unsere erschrockenen Blicke und
fängt sich. Noch etwas zögernd rutscht er vom Sessel, rüber zur
Couch, dicht neben Omi.
> War nich' so gemeint, Zuckerluttchen. <
Und: > Aber den Extraschein für die Kinners gib's trotzdem. Denn
wat man verspricht, dat is' fest! <
Um schon mal für alle Fälle vorzusorgen, kramt er einen Schreib-
block raus.
> Jeder von euch kricht jetz' n Blatt, wo er seine Wünsche rauf-
schreibt. Denn klappen wir dat inner Mitte zusamm', und ich nimm
dat Ganze in polizeiliche Verwahrung. Jo, und wenn wir Schwein ha-
ben, hol'n wir den Stapel wieder raus und gehn ma' richtich einkau-
fen...Na, wie findet ihr dat?! <
Nicht schlecht finden wir das. Nur ist das mit dem Schwein haben so
eine verflixt blöde Sache. Jeder will ja viel Schwein haben, doch leider
bleiben die meisten Scheinbesitzer eben arme Schweine.
Manni sieht das viel optimistischer.
> Rein rechnerisch sind wir schon fast Milljonär. Wir müssen halt nur
ma´wat riskier'n. Zwanzich Felder ankreuzen, statt lumpiger zwei, zum
Beispiel. Oder dreißich, oder nich..? <
Ein bisschen Skepsis muß schon sein.
> Nu ja, < meint er. > Dat kleine Wörtchen 'fast' is' praktisch dat einzige
Hindernis, bevor wir reich sind. <
Wir glauben ihm - fast.
Manni sammelt die Wunschzettel ein und verstaut sie in der Küche.
Wo, sagt er nicht. Top secret.
> So, und nächste Woche könnt ihr schon mal großes Schopping ein-
planen!, < verkündet er bei seiner Rückkehr. > Und danach steigt die
ultimative Supersause, ne?! <
Er peilt in die Runde.
Irgendwie haben wir das Gefühl, daß er heute nicht ganz richtig ist,
im Kopf.
Das sagen wir natürlich nicht. Trotzdem macht uns sein immer stärker
werdender Glaube, die dicke Kohle praktisch schon im Sack zu haben,
etwas Sorgen. Schnaps hat er nicht intus - oder nicht viel - da hockt
also ein nüchterner Manni vor uns, der so schön träumt, daß es schade
wär, ihn aufwachen zu lassen. Außerdem träumen große Jungs und
Mädchen auch gerne - also spinnen wir ein bisschen mit.
> Was hast du dir gewünscht?, < will ich von Sabine wissen.
> Sag ich nicht. Kostet aber nicht viel. <
Immerhin darf ich raten.
> Klamotten? <
> Kalt...<
> Noch 'n Piepmatz? <
> Warm. <
> 'n großer Piepmatz...Papagei! <
> Kleiner. <
> Denkedenke... 'n kleiner Papagei! <
> Nee, kein Papagei. <
> Was denn? 'ne Wusche? <
> Keine Katze. <
> Also was zwischen Katze und Papagei, < bohre ich.
Biene lacht sich eins.
> Ich habs!... 'ne Katze die sich einbildet 'n Papagei zu sein, weil sie
alles nachplappert! <
> Doofmann! <
Ich gebe auf.
Manni verrät, daß er sich zwei Dinge wünscht, die auch nicht teuer
sind. Erstens: eine Pfeife, weil das Kippengequalme nicht mehr zeit-
gemäß ist, wie er sagt.
Und zweitens?
Streng geheim.
Er grinst breit und drückt Oma Lutti fester an sich.
Nach soviel Geheimnistuerei plaudert nur noch Uli Bittner zwei sei-
ner drei Wünsche aus. Er wünscht sich eine Armbanduhr und (er wird
rot)...und mehr Haare auf der Brust.
> Mehr Brusthaare? Wieso? <
Uli druckst herum.
> Wegen Ria. < (er meint Regina aus der Parallelklasse). > Die hat das
gern. <
> Wen oder wat hat die gern?, < stichelt Manni. > Dich, oder din ´Brust-
pelz´? Außerdem gib's Brusthaar nich' einzeln zu kaufen, wenn du dat
meinst. <
Das gibt Uli zu denken. Nach einer Weile streicht er seinen zweiten
Wunsch von der Liste - vielleicht auch Ria.
Wir verputzen die letzten Krümel vom Apfelkuchen, schlürfen die Ka-
kaotassen leer und verabschieden uns - jeder einzeln, mit dicken
Schmatzern für die edle Spenderin.
Manni und Oma Lutti stehen oben im Fenster und winken uns nach.
> Mal sehn, ob wir nächste Woche Geld wie Heu haben, < ulkt Micha
auf dem Nachhauseweg.
> Geld wie Heu?, < merke ich skeptisch an. > Kannste vergessen. Jetzt
sind wir nur arm... Aber nächste Woche sind wir total arm, weil Manni
wahrscheinlich gleich zehn Scheine vollkritzelt. Oder hundertzehn, we-
gen viel zu vieler Wünsche. <
Uli stoppt.
> Wollt ihr meinen dritten Wunsch hör'n? <
> Naklar!, < rufen wir gleichzeitig.
> Ich hab mir gewünscht, daß wir nich' stinkreich werden. <
> Nicht reich?...Ganz schön bekloppt. Und wieso? <
Uli brauch nicht lange drüber nachdenken.
> Weil Reichsein langweilich is'. <
> Langweilich? Du spinnst. <
> Ich spinn nich'! Der Gerd vom ollen Eisenbart, dem die Schokola-
denfabrik gehört, is' ja auch reich. Und: was hatter davon? Jede Men-
ge Schokoriegel, 'n sauteures Moped, schnieke Klamotten, und was
weiß ich. Aber Freunde hat der nich', weil er sich was drauf einbildet,
'n reicher Fatzke zu sein. <
> Ich wär nich' so eingebildet, < meint Micha. > Aber 'n bisschen mehr
Gas geben würd' ich auch, wenn ich mit der noblen Blechbrumme vom
Eisenbartgerd in der Schule einlauf'. <
> 'n bisschen auf'n Putz haun is' okay, < findet Uli.
Finde ich nicht - aber meine Meinung zum Thema ist heute nicht ge-
fragt. Und überhaupt sind wir heute wieder sowas von tiefsinnig, daß
wir wegen beginnender Kopfturbulenzen beschließen, das Thema ´Ein-
bildung´ erstmal ruhen zu lassen. Wir kommen schließlich zu der Er-
kenntnis, daß Armsein nicht schlimm - und Reichsein nicht toll sein
muß - oder umgekehrt. Was soviel heißt, wie: ist uns ziemlich schnup-
pe. Fest steht lediglich, daß Prahlegerd vom Eisenbart selber Schuld
ist, daß er keine Freunde hat. Arroganter Fatzke, der.
Am nächsten Samstag gewinnt Manni keine Million. Auch nicht am
übernächsten.
Am überübernächsten Sonnabend endlich ein Hoffnungsschimmer...
Drei Richtige - leider auf dem ganzen Schein, und nicht in einem Feld.
Trotzdem ist das für Manni ein Grund zum Feiern.
Er öffnet das erste Bier und feiert durch, bis zur elften Flasche. Dann
ist er ziemlich blau und geknickt, wegen der Million, die wieder mal
ein anderer einsackt.
Ungefähr ein Jahr nach der Wunschzettelaktion gewinnt Manni tat-
sächlich.
Ein Vierer!
Stolz kassiert der tapfere Lottokrieger 14o Piepen.
Na ja, riesig viel ist das nicht, aber immerhin kann er damit vier Wün-
sche auf einen Schlag erfüllen.
Den Hamster für Biene.
Die Uhr für Uli Bittner.
Maria, die Jungfrau, aus Plastik - für Omi.
Und die Pfeife für sich.
Die restlichen Wünsche werden auch erfüllt. > Indianerehrenwort!, <
schwört er.
Er hielt Wort. Nach dem Vierer hat Manni nie wieder Lotto gespielt.
Und vom so gesparten Geld - um die tausend Piepen - blieb sogar
noch was übrig.
> Dat wird auf 'n Kopp gehaun, < schlug Manni vor, und wir hatten
nichts dagegen einzuwenden.
Von überall kamen Leute zu uns, und die Bude war rappelvoll.
Weil schließlich keiner mehr reinpasste, in Mannis' Bude, legten wir
die ersten, betrunkenen Leute zum Auslüften runter, in den Fahr-
radkeller.
Manni gesellte sich gegen zwei Uhr, morgens, dazu.
Er hat gelacht. Hat andauernd gekichert.
Wir merkten schnell, daß er dudelduhn und glücklich war.
(c) Ralph Bruse
Manni ins Rathaus
Alle paar Jahre, im März, marschieren die Leute von Bukow
ins Rathaus. Dort stehen Holzkisten - oben mit Schlitz, und da
stecken die Leute Zettel rein. Auf den Zetteln stehen viele Na-
men - auch der von Manni. Er steht zum ersten Mal auf den Zet-
teln - und wie er hofft, auch zum letzten Mal. Mit Politik und so
hat er nämlich nichts am Hut. Das betont er so oft, daß wir ihm
das glatt glauben. Aber leider ist er der einzige von uns, der schon
volljährig ist und der bestens weiß, was kleine Leute wollen. Au-
ßerdem finden wir, daß hier in letzter Zeit ziemlich tote Hose
herrscht; daß Mückenbach deutlich mehr an Abwechslung bie-
tet, obwohl es viel kleiner ist, als Bukow. Deshalb muß einer von
uns in den sauren Apfel beißen und im Rathaus arbeiten.
Manni arbeitet natürlich lieber als Fahrradflicker. Die Werkstatt
reicht ihm vollkommen.
Ihm - uns aber nicht. Deshalb wird Manni demnächst Rathausar-
beiter. Weil er das zuerst nicht will, sammeln wir schon mal heim-
lich Unterschriften, damit sein Name trotzdem auf die Zettel
kommt. In der Zwischenzeit, so hoffen wir, biegen wir ihn zurecht.
Doch Manni bleibt noch ‘ne ganze Weile stur, bis er endlich unter
Protest einwilligt, den Affen zu spiel’n, wie er sagt.
Wir sind happy und besorgen was zum Feiern. Für uns Cola und
für Manni die ‘gelbe Brause’.
> Ihr könnt nich’ ganz dicht sein!, < schmollt Manni nach dem
ersten Schluck.
Nach der dritten Bierflasche sieht er das schon anders. > Wenn
ich mir dat so überlech...Nu’, denn kann ja jeder Dussel Rathaus-
minister wer’n. Sogar ich! <
Später, als seine Augen noch nebelverhangener (und sieben Bier-
flaschen leer sind) findet er die Idee sogar gut. > Mehr Schietkrom
als der olle Murksfritze (er meint den jetzigen Bürgermeister) kann
ich auch nich’ fabriziern, ne? <
Das schiefe Lachen lässt sein Ersatzgebiss knirschen.
Dann knirscht es nicht mehr und er fragt doch eher skeptisch:
> Und wenn die Leute nu’ wirklich so bekloppt sind, mich zu
wähl’n ? <
> Denn biste der Obermacker von Bukow!, < kräht Bittner.
> Jo, bin ich denn wohl, < brummt Manni noch skeptischer. Fast bet-
telnd fügt er hinzu: > Sagt ma’, will nich’ einer von euch den Ober-
fritzen machen? <
Nach Mannis vollstem Einverständnis, den Job zu übernehmen,
fängt für uns die Lauferei erst richtig an. Schließlich muss dafür
gesorgt werden, daß unser Topkandidat bekannt - vor allem aber
beliebt wird. Wer nicht beliebt ist, kann auch nicht Bürgermeister
werden - logisch.
Nur: wie wird man beliebt?
Durch Plakate, zum Beispiel. Man kann sich auch anders beliebt
machen, aber mit Plakate gehts schneller.
Also reichlich Plakate drucken lassen - mit Mannis Konterfei
drauf. Deshalb muß der Kandidat zum Fotografen. Da war Manni
noch nie. Ist auch die beste Gelegenheit, Oma Lutti gleich mitzu-
nehmen.
Die Bilder werden super - vor allem, weil wir Manni erstmals ra-
siert und schnieke angezogen sehen. Oma Lutti sieht auch dufte
aus im grünen Minirock und mit rosarotem Hut. Nur das viele
‘Gemüse’ an der Hutkrempe stört ein bisschen. Jedenfalls lachen
die beiden so schön, und das ist die Hauptsache.
Wir beschließen spontan, Luttchen auch mit auf die Plakate zu
nehmen. Sie will eigentlich nicht - oder nicht gleich. Dann will sie
doch, weil die Chancen, als Frau vom Bürgermeister ins Fernsehn
zu kommen, nicht schlecht sind. Außerdem wollte sie schon immer
mal sagen, daß die meisten Rathausfritzen eingebildete Fatzkes sind;
daß Manni zwar gern einen über ‘n Durst trinkt, aber sonst ein ganz
netter Kerl ist. Dann droht sie noch an, ihre Schwester in Hornsdorf
und den Bruder in Schmakentin zu grüßen. Sie denkt wirklich an
alles...
Zum Glück können wir ihr das mit Mannis großem Durst und die
lieben Grüße ausreden. Sie ist eben noch kein Profi, wie wir, also
Schwamm drüber.
> Denn sag ich eben gornix!, < flaumt sie beleidigt und stapft da-
von. Nach etwa fünf Minuten ist sie wieder da und will wissen, ob
sie denn wenigstens anfragen darf, wann denn endlich die Wohn-
blocks im Viertel ‘nen Anstrich kriegen, weil die grau und trostlos
sind - daß da neue Fenster rein müssen, weil’s in die alten rein-
zieht. Und der ganzen Betonwalachei, ringsum, würde mehr Grün
sicher auch gut stehn.
Naklar darf sie das sagen. Soll sie sogar!
Wir haben auch noch einige Wünsche auf Lager. Nur: Wünsche hin
oder her...Erstmal muß Manni Chef von Bukow werden.
Tapfer stürzen wir uns in die Wahlkampfschlacht. Während Manni
seinen letzten Rausch ausschläft, ziehen wir los, jede Menge Plakate
kleben.
Am andern Morgen weiß jeder in Bukow, daß wir es ernst meinen.
Überall hängen unsere Plakate, sogar an der Vogelscheuche vom Koh-
lepaul.
Wir holen Nachschub - sorgen dafür, daß auch drüben, in Mücken-
bach Hinz und Kunz Bescheid wissen.
Manni ins Rathaus!
An dem Spruch kommt in diesen Tagen keiner vorbei, der Augen
über der Nase hat. Wir sorgen dafür, daß in der Schülerzeitung ein
zweiseitiger Riesenbericht über Manni erscheint.
Prompt wollen die von den ‘Bukower Nachrichten’ auch mit ihm
sprechen. Wollen...Manni hat eigentlich keine Lust, dauernd zu
quatschen. Ihn nervt der ganze Rummel. Immerhin ist auf Oma
Lutti Verlass, weil sie ja sowieso die meiste Zeit lang redet. Die
Zeitungsfritzen würden natürlich viel lieber mit dem nächsten
Bürgermeister reden - aber bis Luttchen alle Wünsche, Grüße und
Sorgen los ist, sind die Zeitungsleute sichtlich geschlaucht und ma-
chen sich still und leise aus dem Staub.
Es kommt, wie es kommen muß...Manni hat den Ruhestörern
im Haus immer weniger zu sagen. Er schaltet auf Durchzug. Dafür
bleibt Oma Lutti munter am Ball. Sie hat eben Spaß dran, Besucher
mit Kuchen und wichtigen Nebensächlichkeiten zu versorgen. Die Ge-
legenheit, lockerflockig über dies und das zu schnacken, bietet sich
schließlich nicht alle Tage. Manni ist das nur recht. Er kann klamm-
heimlich abtauchen, während es um ihn fröhlich weiterschnackt.
Wir überlegen fieberhaft, ob wir nicht Luttchen statt Manni zur
Arbeit ins Rathaus schicken sollen? In punkto freies Reden hat sie
den Bürgermeisterposten sowieso schon klar für sich entschieden.
Nach kurzem hin - und her sagt Micha Sommer: Ich bin dafür!
Die restlichen Wahlkämpfer stimmen zu. Oma Lutti ist ja eine von
uns, und wenn sie rethorisch mehr drauf hat, als Manni, muß sie
eben ‘Obermacker’ werden. Das Blöde ist nur, daß sie eindeutig
zuviel redet und nur selten das, wonach gefragt wird. Gestern er-
zählte sie dem Zeitungsschreiber sogar was vom Schweinebraten,
neulich. Der brannte glatt an, weil sie mal eben im Schaukelstuhl
eingedöst war.
Uns schwant Unheil....Wenn das so weitergeht, dann können wir
Luttchen im günstigsten Fall als Schlafmütze ins Rathaus hieven,
oder als Nervensäge.
Auf Besserung hoffend, machen wir uns trotzdem ruckizucki daran,
sämtliche Plakate neu zu überkleben. Statt ‘Manni ins Rathaus!’
steht nun überall geschrieben:
Manni tritt zurück.
Oma Lutti rockt das Rathaus!
Dann passiert etwas Unvorhergesehenes. Es tauchen zwei Typen
auf, die auch Bürgermeister werden wollen. Deren Plakate hängen
jetzt auch überall rum.
Da hilft nur eins: wieder losziehen, um unsere Plakate auf den aktu-
ellsten Stand der Dinge zu bringen. Jetzt steht da:
Manni tritt zurück.
Oma Lutti rockt das Rathaus!
Darunter der alles entscheidende Satz:
Die andern können nix!!!
Nochwas Unvorhergesehenes kommt auf uns zu. Die Druckerei
will Geld von uns. Von uns! - die spinnen wohl!
Wir marschieren ins Rathaus und lassen die Rechnung gleich da.
Nach einer Woche meldet sich wieder die Druckerei. Noch immer
kein Geldeingang. Den Marsch zur Rathauskasse, zwecks Werbe-
kostenerstattung, sparen wir uns. Keine Zeit, denn morgen ist
Wahltag.
Inzwischen haben die zwei andern Typen aufgeholt - eventuell
auch überholt. Der eine hat zwischenzeitlich acht Interviews ge-
geben; der andere sechs. Oma Lutti nur vier. Wir haben den Ver-
dacht, daß ihr der verhunzte Schweinebraten und sonstige Wich-
tigkeiten eher nicht nützlich waren. Einer der beiden Typen be-
hauptet sogar im offenen Fernsehkanal, daß Luttchen gar keine
blasse Ahnung von Kommunalpolitik hat.
Hat sie auch nicht. Aber als er dann aber noch sagt, ihr Mann ist
ein übler Säufer - das wär doch stadtbekannt - da hat er mindes-
tens zehn Gegenstimmen mehr am Hals.
Stumm und wütend sind wir, als wir das hören. Ausgerechnet Man-
ni, den der Typ schwer beleidigt hat, findet seine Sprache zuerst wie-
der. > Nich’ die feine Art, < meint er knapp.
Und nach einer Pause: > ...in dem Laden arbeite ich garantiert nich’! <
Jetzt zittert seine Stimme.
> Nu’, dat wars denn wohl, Leute...Für euch hätten Luttchen und un-
sereiner den Affen gemacht. Wird wohl nix draus. <
Er zuckt geknickt die Achseln, als wüßte er schon, wer morgen Bür-
germeister wird.
Beinah hätte er falsch gelegen....Oma Lutti wird zwar knapp Dritte,
aber immerhin haben sie 1161 Leute aus Bukow gewählt.
Das Schönste aber ist, daß der Blödi, der so fies über Manni herzog,
auch nicht Bürgermeister wird. Der sackt nämlich grade mal eine
einzige Stimme mehr ein - genau 1162.
Gewonnen hat der alte Bürgermeister, der auch neuer Bürgermeis-
ter ist.
Schade drum.
Na ja, umsonst war der ganze Rummel doch nicht, denn Luttchen
sitzt jetzt im Ortsbeirat - ziemlich dicht beim Bürgermeister. Da
kann sie auch ein bisschen mitreden. Über die Druckerei-Rechnung,
beispielsweise. Die hat sie resolut lächelnd einfach der Frau von der
Stadtkasse untergeschoben. Wie gedopt hat sie der Ärmsten Vorträ-
ge übers Kochen und Backen gehalten; mit fließendem Übergang zu
Topfgewächsen, Kanarienvögel, vergeigtem Schweinebraten sowie-
so; hin zu Katz, Hund, und und und.
Aber wenigstens sind wir die Horrorrechnung der Druckerei los.
Übrigens: nächsten Monat kriegen wir endlich unseren eigenen Ju-
gendtreff, drüben, im ehemaligen Schlachthof. Da warten wir schon
Jahre drauf. Und die graue Häuserwüste im Viertel kriegt auch ‘nen
frischen, bunten Anstrich.
Tja, so schnell geht das manchmal.
(c) Ralph Bruse
Ole Mulljahn
Wie anderswo, gibt es auch in Alt-Bukow was-los-und-nix-los-Tage.
Letztere: so genannte Schnarchtage. Da kommt man dann auf komi-
sche Ideen - zum Beispiel, mal wieder in die Kirche zu gehn.
Leider treffen wir dort nur alte Leute an - und die sehen nicht so aus,
als wollten sie Spaß haben. Also verziehen wir uns wieder, um in der
allgemeinen nix-los-Stimmung vielleicht doch noch die Kurve zu krie-
gen.
Einen dieser Schnarchtage werde ich mal beschreiben. Ihr werdet
schnell merken, daß von Langeweile schon bald nicht mehr die Rede
sein kann...
Wie gesagt: zunächst herrscht noch absolute Stille in Bukow. Alles ist
so friedlich, daß man glauben könnte, hier wohnt keiner mehr. Okay,
eintönig ist die Rumhängerei anfangs schon. Trotzdem: Rumhängen
kann ab - und zu auch nüzlich sein.
Wir nutzen also die Gelegenheit für eine Auszeit im Grünen - womit
wir auch schon beim Thema sind... Alt-Bukow hat viele schöne Seiten.
Viel Grün, also. Wiesen hatten wir schon. Dann sind da noch mehrere
Teiche, massenhaft Trecker und noch mehr Kühe.
Was noch?
Das soll fürs Erste reichen. Jedenfalls ist hier ansonsten ziemlich viel
los - wenn nicht gerade Schnarchtag ist. Der ist heute - also ist erstmal
nix los.
Da drüben laufen wir... Bittner, Micha Sommer und ich. Rechts ist die
Kuhwiese. Links ist noch 'ne Wiese, ohne Kühe.
Im Moment sind wir schwer beschäftigt. Fladen zählen. Auf Kuhwei-
den liegen Kuhfladen - logisch. Die müssen gezählt und markiert wer-
den. Derzeit liegt der Rekord bei 123 Dunghaufen - aufgestellt von 13
Kühen, am 23sten März diesen Jahres. Zu der Zeit waren deutlich
mehr Schlammpfützen als Gras auf der Wiese, und das Futter war
deshalb noch ziemlich knapp. Kalt war es außerdem. Den Kühen fro-
ren fast die Euter ein, so schlimm wütete die Kälte. Die Muhkühe hus-
teten sogar - jedenfalls hörte sich das so an. Daß die erkältet waren,
merkte man sofort. Deswegen auch der Dünnpfiff, und viel mehr
Kuhfladen, als sonst.
> Kuckt ma', da hinten läuft Biene!, < stört Micha Sommer die herrli-
che Morgenstille. > Hübsch, ne? <
> Jo, hübsch, < meint Uli Bittner. > Wo geht die denn hin? <
> In die Kirche, < entgegne ich resigniert. > Konfirmantenunterricht. <
Uli Bittner grinst sich eins.
> Unse' Kirche is' auch schön, ne? <
> Ja, super, < knurre ich fast. > Is' sowieso alles schön hier. <
> Kann man wohl sagen. <
Nach soviel Gerede brauchen wir erstmal eine Pause.
Wir umrunden die Kuhwiese. Erst die zur Linken, dann die andere,
gegenüber.
> Die hier sehn aus, als würden sie heut' gewinnen!, < kräht Micha
und zeigt nach rechts.
> Glaub ich nicht, < halte ich dagegen. > Jede Wette, daß die auf der
andern Seite mehr Haufen haben! <
> Werden wir ja sehn, < meint Bittner und schwingt sich als Erster
über den Koppelzaun.
112 Haufen zählen wir. Das ist nicht neuer Rekord, aber immerhin Mo-
nats-Bestleistung.
Dementsprechend aufgeregt sitzen wir später im Stall von Bauer Bub-
ba - analysieren, rechnen und bereden sämtliche Tages - Wochen - und-
Monatsleistungen hunderter Kühe aus dem Bukower Umland.
Seltsamerweise sackt die zunächst gute Stimmung langsam in den Kel-
ler. Und dann fängt die alte Leier von vorn an.
> Ob die Kühe den Rekord dies' Jahr noch schaffen?, < will Bittner wis-
sen. Er streckt sich und gähnt.
Langanhaltendes Schweigen.
Micha glaubt an die Kühe - will retten, was zu retten ist.
> Okay, 112 Haufen sind so schnell nicht zu toppen. Aber unse' Kühe
war'n schon immer besser, als and're. Die schaffen das! <
> Na klar, das packen die locker!, < stimme ich zu.
> Kein Wunder bei dem leck'ren Gras!, < meint Bittner, der sich ner-
vös am Kopf kratzt.
Das wars.
Die plötzliche Stille ist kaum auszuhalten. Gerade waren wir doch noch
so munter und begeisterungsfähig - und jetzt das...Funkstille.
Und Unwohlsein.
Da ist was in der Luft. Vielleicht nur 'ne Knallerbse. Eventuell auch ´ne
große Knallerbse. Jedenfalls knallt es bestimmt gleich...Wir ahnen es...
Und dann knallt es wirklich, weil Micha den falschen Satz zur falschen
Zeit sagt. Er klatscht sich auf's Bein. Wenn er das tut, wissen wir längst,
was kommt.
> Jesses, is' schon schön hier, ne? <
Wir zucken zusammen - sogar Micha. Ein Milchkübel fliegt um. Zum
Glück ist der leer. Es scheppert nur gewaltig.
Sonst passiert nichts. Außer, daß einer sagt: > Jo, schön. <
Was wir noch nicht wissen...Am gleichen Tag, gegen Mittag, kommen
zwei neue Einwohner nach Bukow. Vater und Sohn. Seitdem ist nichts
mehr, wie es mal war - vorbei sind Ruhe und himmlischer Friede. Aber
langsam, und der Reihe nach...
Die Neuen heißen Mulljahn. Vater Mulljahn ist schon alt und klapprig.
Sein Sohnemann ist um die Achtzehn, mindestens zwei Meter groß und
wahrscheinlich ziemlich stark.
Soll er doch. Viel schlimmer ist, daß Ole Mulljahn Junior offenbar vor-
hat, in Bukow den Leithammel zu spielen, so wüst, wie der daher kommt.
Die Leute im Ort ziehen jedenfalls schnell ihre Köpfe ein, und tuscheln,
Vater und Sohn wären Wilde, die wahrscheinlich direkt aus dem Busch
kommen.
Gerede, denken wir. Doofes Geschwätz. Auch der Pfarrer ist erstmal un-
serer Meinung und heißt die neuen Bewohner herzlich willkommen. Daß
die Mulljahns arm sind, sieht auch er schon von Weitem - mahnt aber:
> Armut ist keine Schande. Nehmt die bedauernswerten Mitgeschöpfe
also in die Mitte und lasst sie großzügig an euerm Leben teilhaben. <
Lassen wir ja. Nichts lieber, als das. Nur: wie zwei total durchgeknallte
Typen in die Mitte nehmen, die drauf pfeifen, in die Mitte genommen
zu werden, weil die nämlich nie da sind, wenn man Gutes tun will?
Fakt ist, daß die 'bedauernswerten Mitgeschöpfe' schon besoffen in das
halb vergammelte Haus, am Schrottplatz, einfallen und ab sofort be-
schließen, fröhliche Feten zu feiern. Freunde scheinen jedenfalls genü-
gend da zu sein. Die ziehen vorübergehend gleich mit ein.
Bierfässer werden herangeschafft.
Musik an. Volle Pulle. Das laute Gedudel hört der Pfarrer sogar hinter
dicken Kirchenmauern.
> Sie freuen sich halt des Lebens und feiern die Ankunft bei uns, < lä-
chelt der Kirchenmann nachsichtig.
Recht hat er. Und wie die sich ihres Lebens freuen...! Die freuen sich
praktisch immer ihres Lebens und feiern es - nur wissen wir das jetzt
noch nicht.
Noch mehr Freunde zum Mitfeiern können Mulljans offenbar nicht
brauchen. Uns lädt jedenfalls keiner zu ihren Feten ein.
Nach sieben(!) Feiertagen in Folge steht Ole Mulljahn leibhaftig und
völlig überraschend vor uns. Über uns, genauergesagt.
Was 'ne lange Latte!, denke ich beeindruckt und spitze die Ohren.
> Na, ihr Knalltüten!, < grüßt der Lulatsch leicht besoffen.
Er kommt auch gleich zur Sache.
> Hört mal zu. Nur, daß das ma' klar is'... Ab jetzt mach ich hier den
Bigboss, klaro?! <
Er rülpst, wie Bauer Bubbas' Kühe furzen. Unsere misstrauischen
Blicke bemerkt er ziemlich schnell. Drum übt sich seine erstaunlich
tiefe Stimme in einem netteren Ton.
> Na gut, denn machen wir das eben auf die Demokratische. <
Der nächste Rülpser.
Dann das: > Also...ich bin dafür, daß ich euer Anführer bin. Hat einer
was dagegen?! <
Seine benebelten Augen glotzen im Halbkreis. Die Frage klingt ein-
deutig nach Drohung, und wir fühlen uns plötzlich so klein und feige.
Und dieser Ole Mulljahn sieht wirklich gefährlich aus in seiner Bom-
berjacke und mit der Messertasche, samt Inhalt, am Gürtel. Außer-
dem noch dieser irre Blick aus dem langgezogenen, hässlichen Pfer-
dekopf - das halten unschuldige Jungs vom Lande nicht lange aus. In
einer Art von Notwehr sagen wir deshalb fast gleichzeitig: > Ja. Nee.
Nix dagegen. <
Kaum gesagt, da bereuen wir unseren Beschluss auch schon wieder.
Mulljahn pfeift sich eins und bringt es auf den Punkt.
> Tja, Leute, so is' das nu' ma'. Einer muß euch ja ma' zeigen, wie's in
dem Kaff so läuft, ne. Ich nehm' die Wahl denn ma' dankend an. Und
weil ich jetzt der große Bennamucki bin...<
Das ist er. Bennamucki. Und was für einer!
Seine weitaufgesperrte Zahnlandschaft sieht aber eher gruselig aus.
Lauter spitze und schwarze Krüppel.
Vitaminmangel, tippe ich mal. Wahrscheinlich auch andere Mangeler-
scheinungen wegen fehlender Zuneigung. Wer weiß, vielleicht wohnt
hinter dem äußerst hässlichen Mulljahn ja ein ganz zarter und zer-
brechlicher Ole. Könnte schon sein.
Ich vermute richtig. Vor allem nach Liebe sucht er. Er kratzt sich näm-
lich andauernd die Beutel und schnalzt mit der Zunge.
> Sagt ma', gib's in der öden Walachei noch was anderes als Kühe und
alte Weiber? 'n paar scharfe Miezen könnten der Gegend wahrlich nich'
schaden! <
Worte solchen Kalibers sind uns zwar nicht fremd, aber wir sind trotz-
dem beeindruckt. Deshalb starren wir unseren Anführer an, als wär er
einer vom Mond.
> Ihr könnt vielleicht bescheuert aus der Wäsche glotzen!, < schnauzt
er.
> Also wie jetzt...Gib's hier 'n paar Miezen zum Abgreifen, oder rennt
ihr den Hühnern nach?! <
Sein Kichern wirkt reichlich unpasssend.
> Ja, gibts, < stottert Micha, der seine Sprache zuerst wiederfindet.
> Prima. Und, wie stehts mit denen? <
> Wie steht was?, < will Micha wissen.
> Erbsenkultur, oder wächst da schon Größeres? <
> Ja. Nee.... Erbsen? <
Micha ist ziemlich durcheinander.
> Leute, ihr seid ja noch bekloppter, wie ihr ausseht!, < flaumt Mull-
jahn. > Ich rede von schnuckligen Weibern, nich' von Ackerbau und
Viehzucht, ihr Nachteulen...! Möpse.Titten. Du versteh'n?! <
Ich komme Micha zu Hilfe.
> Wir sind um die Zeit meist hier, auf der Koppel, wegen der Kuhfla-
den. Die zähln wir. Der Rekord liegt zur Zeit bei... <
> Ihr seid doch total Perverse!, < schnauzt Mulljahn dazwischen.
> Scheißhaufen zähl'n... Behämmert seid ihr! <
Er kramt eine Zigarette raus, steckt sie an und pustet mir den Qualm
mitten ins Gesicht.
> Und sonst läuft nichts bei euch? <
Ihm jucken die Fledermausohren, also kratzt er sich zur Abwechslung
mal da.
Schon viel ruhiger brabbelt er: > Ich merk' schon, daß ihr von Tuten
und Blasen null Ahnung habt. Aber zerbrecht euch mal nich' den Kopp,
ne. Dafür bin ich ja jetz' hier. Lasst das ma' den Onkel Ole machen, ihr
Armleuchter. <
Um seinem Vortrag Wirkung zu verschaffen, sagt er so freundlich, wie
möglich: > Also - zuallererst muß ma' 'ne Vertrauensbasis hergestellt
werden... Hier einschieben, und denn dürft Ihr Olli zu mir sagen. <
Er reicht eine seiner Pranken herum. Seine Zigarette wandert derweil
in meinen halboffen stehenden, staunenden Mund.
> Hier, Erwin, zieh ma' ein' für mich durch. Ich muß nämlich pissen,
wie 'n Stier! <
Er pinkelt völlig zwanglos vor die Tür des Emmaladens, gleich gegen-
über. Zum Glück ist der Laden über Mittag zu.
Während Ole den 'kleinen Mulljahn' wieder in die Hose steckt, gibt er
schon mal seinen Befehl für heute abend aus.
> Punkt sieben, hier. Alles klar, Leute?! <
Sein Grinsen taucht wieder auf.
> Denn machen wir nämlich mal 'n bisschen Rabatz in dem toten Kaff.
Und später geht's denn auf die Piste, zwecks Brautschau! <
Seine Zunge hängt sabbernd am Kinn.
Wir stehen da wie bestellt und nicht abgeholt. Sagen können wir auch
nichts. Jedenfalls nicht gleich.
Endlich meldet sich Micha.
Ganz zaghaft nuschelt er: > Um sieben geht bei mir nich'. Muß in die
Kirche... Konfirmantenstunde. <
> Na, denn renn doch zur Kirche, du Hoschi!, < schnauzt Mulljahn ihn
an. > Und grüß mir den Heini da oben, wenn er dir über'n Weg läuft! <
Er rempelt Micha so stark an, daß der hinfliegt.
Das hätte er nicht tun sollen, denn plötzlich werden die drei 'unschul-
digen Jungs vom Lande' wieder mutig - sogar wütend und böse. So
böse, daß es garantiert nicht mehr lange dauert, bis es rumst, im Kar-
ton.
Erstmal helfen wir Micha hoch. Dann stellen wir uns vor dem Lulatsch
hin - auf Zehnspitzen - recken und strecken uns - glotzen Mulljahn mit-
ten in die hässliche Visage.
> Du wirst nie Bennamucki sein. Und du wirst auch nie wieder einen
von uns umhau'n!, < schärft Uli Bittner dem Langen mit zittriger Stim-
me ein.
Ole Mulljahn ist natürlich obersauer und ziemlich geladen. Weil wir
aber auch ziemlich geladen sind, flüstert ihm eine innere Stimme, daß
es besser wär, erstmal die Fliege zu machen - was er auch tut.
> Okay, ihr Hirnies, < schnauzt er noch von Weitem. > Ich lass von
mir hör'n. Aber hundertpro! <
Er reckt die Fäuste.
> Soll heißen: es gibt Krieg, ihr undankbaen Bauernsäcke! Totalen
Krieg!! <
Kommt uns irgendwie bekannt vor, der Spruch. Ach ja, Geschichte...
War auch 'n Idiot.
Noch aus schätzungsweise zweihundert Metern verflucht Mulljahn
die ´undankbaen Bauernsäcke´, die ihm Saures gegeben haben.
Zwei Tage später brennt Bauer Bubbas' Stall ab.
Dreißig Kühe können gerettet werden, aber über achtzig Tiere ster-
ben im Feuer.
Zuerst weiß keiner, ob das Absicht war, oder nicht. In Bukow hat es
noch nie gebrannt, außer in manchem Kachelofen, aber davon stirbt
ja keine Kuh.
> Vielleicht 'n Kurzschluss inner Stallbeleuchtung, < brummt Bauer
Bubba geknickt und stapft noch stundenlang weinend um den Stall,
wo kein Leben mehr ist.
Wieder eine Woche später brennt die Wäsche auf Michas Balkon.
Zum Glück passiert nichts Schlimmeres, und der stürmische Regen
regnet das Feuer aus.
Dann, eines Nachts, brennt sogar die Kirche.
Die Holzbalken im Kirchendach donnern zuerst runter. Das Einlass-
tor brennt auch. Nur der Altar und sämtliche Sitzbänke brannten dem
'Feuerteufel' nicht schnell genug. Also rannte er nochmal los, um den
nächsten Eimer mit Sprit zu holen. Das war sein letzter, großer Feh-
ler....Denn als er sich zuhause schon mal aus lauter Vorfreude eine Zi-
garette ansteckte...das Streichholz dabei zu dicht an den Blecheimer
kam, und reinfiel - da machte es unerhört laut zischschpiffpuffpffff !!
- und weg war der Ole.
Ungefähr dreißig Minuten später war auch Mulljahns Haus weg. Da
war nichts mehr zu machen.
Schreie haben wir schon noch gehört. Aber als wir die Straße hoch-
rannten und in das riesige Feuer starrten - da schrie keiner mehr.
Tage danach - mitten im Grünen - meinte Micha Sommer: > Jetzt
isses wieder schön friedlich, ne? <
> Ja, schön still hier, < bestätigt Bittner.
Ich dachte derweil laut über Mulljahns grässlichen Tod nach.
> Verbrennen muß schlimm sein. <
> Ja, schlimm. Ganz schlimm!, < sagt Micha. Und er sagt noch:
> Für die Kühe. <
Ehrliches Mitleid ließ uns für eine Weile verstummen.
Schließlich beendet Uli Bittner die traurige Stille.
> Wisst ihr schon das Neu'ste? <
> Nee, was denn? <
> Morgen soll's regnen. Ganz viel regnen soll's. Super, oder? <
> Ja, Regen is' super. Is' gut für die Wiese und für die Kühe, wegen
der Fladen. <
Geschichte und Bild: (c) Ralph Bruse
Hexhex
Ich dachte immer, Hexen hausen im Wald, sind krumm, schrumplig,
hakennasig und ziemlich hässlich. Seit kurzem weiß ich es besser...
Manche Hexen, oder mindestens eine, ist superschön. Die wohnt jetzt
in Bukow, gleich um die Ecke.
Fräulein Nora (eigentlich heißt sie Ingrid Matern) ist 'ne gute Hexe.
Sie kann auch böse werden, aber das passiert nur selten. Meistens
verscheucht sie böse Geister, manchmal Wehwehchen, ab - und zu
auch Männer, die Frauen verkloppen. Ich weiß das, weil ich neugierig
bin, und weil Fräulein Nora Leute braucht, die in ihren Hexenladen
kommen. Die Leute besorgen wir - das heißt: Bittner, Micha und ich.
Wir verteilen Handzettel und kriegen dafür fünfzig Mäuse.
Fünfzig sind viel - jedenfalls für uns. Trotzdem verzichte ich gele-
gentlich auf das Geld und lasse mir dafür die Zukunft voraussagen.
Interessant, was man da so hört... Du bist verliebt, sagte Fräulein
Nora mir gestern auf die Nase zu. Sie deckte eine Karte nach der
anderen auf, verglich sie querbeet, zog die nächste Karte und be-
trachtete sie stirnrunzelnd.
Ich zuckte zusammen. Pik As!
> Jemand wird diesen Planeten bald verlassen, < sprach sie leise.
Und noch leiser: > Dieser Jemand ist sehr krank und ganz in der
Nähe. <
Sie kämpfte mit den Tränen und wischte sich den feuchten Schleier
von ihren Augen.
Ich habe eine schlimme Ahnung, wen sie meint - genau in diesem
Moment - schlucke das blöde Gefühl aber wie einen Halskloß runter.
Zum Glück folgten noch gute Neuigkeiten: zum Beispiel, daß ich ein
gaaaanz langes Leben vor mir hab, daß ich 'ne große Reise übers
Meer mache und daß ich eines Tages reich bin.
Na, wenn das nichts ist!, dachte ich schon viel besser gelaunt und
wappnete mich zum Aufbruch. Ich dankte der guten Hexe. Sie wu-
schelte mir das Haar und zog mich an sich. Da war es um mich ge-
schehen....Ich roch ihr weisses, parfümiertes Kleid, rollte mit dem
Kopf über zwei weiche Brüste; kriege Stielaugen, schloddernde Bei-
ne und heisse Ohren. Kurzum: ich bin verhext.
Sie weiß das natürlich - sonst wär sie ja keine Hexe. Ihr Lächeln
strahlt mich noch an, als ich schon längst draußen, auf der Straße
stehe.
Um mich nochmal verhexen zu lassen, nehme ich mir fest vor, statt
der der nächsten fünfzig Mäuse für verteilte Flyer lieber wieder eine
Lebensberatung - wie Fräulein Nora das nennt - zu buchen. Die schö-
ne, weisse Hexe, die alles sieht und weiß, geht mir einfach nicht mehr
aus dem Kopf.
Alles prima - bis heute...Da habe ich nämlich in der Schule geprahlt,
daß wir jetzt 'ne Superhexe in Bukow haben und daß ich, laut Hexe,
später reich bin.
Leider hat Biene das spitzgekriegt. Zuerst hat sie mich mit Pausen-
brot beschmissen. Anschließend noch mit der Brotdose.
Ihre Trefferquote konnte sich sehen lassen - nur ich nicht. In meinem
Gesicht klebten mindestens zwei halbe Stullen, belegt mit - Moment
mal... schmeckt nach... Teewurst.
Ich kam zu der Überzeugung, daß Biene mich ganz doll liebt, wenn sie
sogar ihre geliebten Teewurststullen dafür opfert. Also schlage ich mir
den Hexenladen, zwei Straßen weiter, für eine Weile aus dem Kopf und
pirsche mich, zutiefst reuemütig, an Biene heran.
Die ist aber immer noch sauer - rennt geradeaus, und mich glatt um.
Ich fliege hin und höre das Kichern der Anderen.
Komisch, das Gekicher stört mich nicht mal besonders. Auch die Tat-
sache, daß Biene weg ist, ärgert mich kaum. Kann sein, daß ich sogar
relativ froh bin, daß sie erst soviel Wirbel um nichts - und sich dann
aus dem Staub macht.
Gut - wenigstens weiß ich jetzt, daß sie in mich verknallt ist - oder war.
Nicht gut: eigentlich weiß ich selbst nicht mehr so genau, wo mir der
Kopf steht. Bin total durcheinander und weiß nicht, woher das kommt.
Weiß ich doch. Hexhex....
Fräulein Nora ist jedenfalls ganz anders. Da bin ich gern; fühle mich
wohl. Wir reden. Na ja, meistens redet sie. Und ich staune, weil sie so
gut über mich und die ganze Welt Bescheid weiß.
Es ist ruhig in ihrem Zimmer. Fast dunkel. Nur Kerzen brennen.
Ich brenne auch! - nämlich auf den Augenblick, vor dem Gehen. Der
Moment ist pure Magie. Der helle Wahnsinn!
Und dann ist er endlich da - der Moment des Abschiednehmens. Ich
bin wohl der einzige Mensch, den Abschied nehmen glücklich macht.
Ich springe also auf und direkt in ihre weitoffenen Arme...spüre und
sehe die großen Brüste. Wie die schützenden Deiche am Hafen, denke
ich. Ich höre das tröstliche Rascheln ihrer langen Haare; atme mehr-
mals tief ein und aus. Ihren Hals umschwirrt der becircende Duft von
Maiglöckchen. Nein: ' ne ganze Armee aus Maiglöckchen! Ich kann
schon garnicht mehr denken. Nur schnuppern. Immer wieder schnup-
pern!
Mist, blöder. Warum kann ich nicht der Hexerich der Hexe sein?!
Daß ich verhext bin, kann keiner verstehen. Auch Uli Bittner und Mi-
cha Sommer nicht. Die sacken einfach ihre fünfzig Mäuse ein und hau-
en anschließend in der Disco auf den Putz, während ich fieberhaft zur
nächsten Lebensberatung renne.
> Du hast 'n Rad ab, < meint Bittner eher besorgt.
Immerhin findet er auch, daß Nora, die Hexe, ganz schön scharf ist.
Fügt aber auch gehässig hinzu: > Mit Kleingemüse hat die garantiert
nix am Hut. <
Das 'Kleingemüse' nehme ich ihm übel. Beinah hätten wir uns deswe-
gen sogar gekloppt.
Nach: Arschloch!, Sackgesicht! und: Selber eins!, trennen sich unsere
Wege.
Ganz allein bin ich nun. Bin nicht nur Biene los, sondern auch zwei mei-
ner besten Freunde.
Dann sind auch die zuletzt verdienten, fünfzig Mäuse futsch. Dafür darf
ich mir zum vierten, oder fünften Mal anhören, daß ich später reich - also
stinkreich - sein werde und daß ich schon wieder über's große Wasser rei-
se. Auch das mit dem Verliebtsein kommt mir irgendwie bekannt vor.
Fräulein Nora denkt wirklich an alles.
Nur das kurze Schmusen vor dem Gehen - das hat sie plötzlich verges-
sen. Natürlich wundere ich mich darüber, weil sie ja sonst nichts vergisst.
Na gut, sag' ich mir. Hexen sind auch nur Menschen. Vielleicht hat sie
auch einen schlechten Tag erwischt.
Also komme ich morgen wieder.
Morgen ist wie Gestern: voller Enttäuschungen. Die fünfzig Mäuse
nimmt Fräulein Nora sehr gern, aber in den Arm nehmen und Ku-
scheln läuft nicht mehr.
Also doch - sie hat's vergessen.
Macht ja nichts. Ich erinnere sie freundlich daran. Sie lacht nur ange-
strengt und schiebt mich sachte zur Tür raus.
Am nächsten Tag ist die schöne Hexe ausgeflogen - mit dem Besen -
eventuell auch ohne.
Auch am übernächsten Tag.
Ich klingele Sturm bei ihr, aber nichts rührt sich. Nur die Gardinen
im ersten Stock wackeln verdächtig, obwohl kein Lüftchen ins Zim-
mer weht.
Ganz allmählich falle ich aus dem klebrig süssen Honigtraum.
Es gibt eben keine guten Hexen, rede ich mir ein. Nur Schöne, aber
die sind innendrin hässlich.
Traurig, mit tiefhängendem Kopf, ziehe ich Leine.
Ungefähr eine Woche lang bin ich nicht ansprechbar. Gleich nach der
Schule verkrieche ich mich zuhause, und in der Schule würde ich am
liebsten im Kreidekasten, unter der Wandtafel, verschwinden.
Sabine sehe ich manchmal in den Pausen. Sie ist still, nachdenklich
geworden. Wir sagen: hallo. Das wars.
Mit Bittner und Micha Sommer dasselbe Trauerspiel. Irgendwas hat
sich verändert - nicht nur zwischen uns, sondern im Ganzen.
Naklar sind wir sauer - jeder auf jeden - und alle haben irgendeinen
Grund, stinkig zu sein.
Trotzdem ist da noch was Anderes. Was, weiß ich noch nicht. Wenn
ich es wüßte, wär ich ja 'ne superschlaue Plapperhexe, und die gibts
zum Glück nur im Märchen. Oder hier, um die Ecke.
Nach einer Woche härtester Einsamkeit, fällt mir endlich ein, daß ich
mal sprechen konnte. Und lachen.
Also nehme ich allen Mut zusammen und spreche Biene an.
Sie widerum ist nicht so gesprächig wie sonst - irgendwie stiller. Auch
ihr Lachen - viel, viel später, ist anders.
Wird schon wieder, sage ich mir. Und: ach was, wahrscheinlich bilde ich
mir auch nur ein, daß nichts mehr so ist, wie früher. Schließlich sind wir
doch Freunde - Biene, Bittner, Micha Sommer, und ich. Und überhaupt:
echte Freunde halten alles aus.
Auch Hexerei.
(c) Ralph Bruse
Gelbe Rosen
Wenn Mai ist, geht im Lindenpark der Blumenklau los. Der Flieder
blüht, und Rosen.
Oma Lutti liebt gelbe Rosen. Im Supermarkt sind die teuer und
die riechen nach nichts. Also holt Manni sie aus dem Park. Immer nur
zwei - eine für Omi und eine für sich. Manni ist ein nachhaltig denken-
der Dieb. Er bricht die Stiele der Rosen nicht einfach ab, sondern er
schneidet sie fachmannmäßig ab - mit der Schere, wie sich das ge-
hört, damit alle Blüten schnell nachwachsen können und andere Die-
be auch noch was davon haben.
Wenn er dann zuhause seine Beute präsentiert, ist Orna Lutti jedes
Mal hin und weg. Naja, nicht gleich, aber später.
> Die haste doch bestimmt stiebietzt!, < schimpft sie.
Schließlich schnuppert sie an den gelben Schönheiten und ihr schrump-
liges Gesicht wird fast genauso schön.
So ist es jedes Jahr und so könnte es immer sein.... Ist es aber nicht,
denn letzte Nacht ist Oma Lutti gestorben - einfach so - im Schlaf.
Krank war sie nicht, nur ein bisschen wackelig und immer müde, in
letzter Zeit. Und Manni stand mit Rosen vor dem Bett, als sie schon
im Himmel war.
Vorhin kam der schwarze Wagen. Da stiegen vier Männer aus,
die gleich hoch glotzten, ins Fenster vom ersten Stock. Sie nahmen
eine Holzkiste mit rauf und Oma Lutti mit runter. Manni hat geweint -
sogar geschrien, weil er mit reinwollte, in den schwarzen Wagen, oder
in die Holzkiste.
Der eine Mann hat Manni beschwatzt, bis er etwas ruhiger wurde.
Dann sind sie weggefahren - ohne ihn. Er sackte auf die Knie - mitten
auf der Straße.
Wir halfen ihm hoch. Das wollte er nicht. Er schlug um sich, flog wie-
der hin und weinte noch lauter.
Schließlich schaffte er es, allein auf die Beine zu kommen.
Er hat keinen Tropfen Schnaps getrunken. Trotzdem torkelt er los,
wie besoffen - die Straße lang - weiter, immer weiter, bis er weg ist.
Jetzt sind wir an der Reihe, zu weinen. Wir umarmen uns, bilden ei-
nen Kreis.
Nur einer fehlt in unserem Kreis: Manni.
Schule fällt heute aus. Unser Freund ist wichtiger. Schnell sind wir
uns einig, nach Manni zu suchen. Wir klappern sämtliche Kneipen in
Bukow ab.
Nichts. Keine Spur von ihm.
Wir rennen zurück, zum Fahrradschuppen, von da aus rüber, zur Kir-
che, obwohl Manni mit Beten nicht viel am Hut hat - könnte ja trotz-
dem sein... Danach ist der Supermarkt dran. Schließlich Hafen und
der Schrottplatz.
Fehlanzeige.
Wir kommen ins Grübeln. Wo versteckt sich jemand, der lieber al-
lein sein will?
Wahrscheinlich da, wo er sich sonst nie versteckt. Damit ihn keiner
findet.
Und wo geht Manni garantiert nie hin?
Denkedenke.
> Ich hab's!, < ruft Micha. > Mühlenteich! <
Könnte stimmen. Dahin zieht es Manni nämlich wirklich nicht, weil
die trübe Entenpfütze nicht sein Fall ist, wie er schon öfter sagte.
Viel lieber schlappt er rüber, zum Hafen, ans geliebte Meer.
Aber heute ist nicht gestern, oder vorgestern, und am Mühlenteich
ist es morgens noch schön ruhig und menschenleer. Zum Traurigsein
genau das Richtige. Trotzdem - er will doch alleine traurig sein.
Und wenn schon. Er brauch uns jetzt, auch wenn der Sturkopp sich
manchmal einbildet, auch ohne uns ganz gut klar zu kommen.
Also los, auf gehts, zur 'Entenpfütze'!
Am Mühlenteich ankert unser Floß. Da ankerte es, bessergesagt.
Jetzt schaukelt es in der Teichmitte, und da drauf sitzt ein trauriger,
alter Mann. Na,wer wohl?
> Haut ab!, < schreit er, als er uns sieht.
Den Gefallen tun wir ihm nicht.
Wir ziehen Schuhe und Kleider aus und stürmen ins Wasser.
Brrr. War auch schon mal wärmer, das Wasser.
Drauf gepfiffen. Wir schwimmen weiter, besetzen einer nach dem
anderen das Floß und hören uns noch eine Weile Mannis Flüche an.
Endlich gibt er auf. Kein Wunder - sind ja viel zu viele 'Ruhestörer'
mit auf dem Floß.
Nach einigen Schweigeminuten öffnet Manni die Papiertüte, neben
sich.
Ob da sein Frühstück drin ist?
Nee, Schnaps. Was sonst.
Also doch...Er setzt an.
Okay - er hält er das elende Traurigsein nur noch besoffen aus. Er
heult in einer Tour - trinkt, heult und trinkt, bis die Flasche ganz leer
ist und er zusammenklappt.
Wir bringen ihn zurück, an Land, und schleppen ihn abwechselnd nach
Hause. Unterwegs reihert Manni überall hin. Zuerst auf Bittners Schu-
he, dann in Bienes Haar, und sich selbst verschont er auch nicht.
Um weitere Kotzattacken besser unter Kontrolle zu kriegen, sprinte ich
los, um den Fahrradhänger aus der Werkstatt zu holen.
Zwar passt Manni nur halb in den Hänger und seine Beine laufen lust-
los - pardon: schleifen lustlos durch die Gegend. Aber immerhin: er
rollt. Schieben ist jedenfalls deutlich leichter, als tragen.
Endlich in der Werkstatt angekommen, hiefen wir Manni auf die erst-
beste Bank und schnappen erstmal nach Luft.
Bittner besorgt Eimer, Wasser und Putzzeug.
Alle müssen ran, Mannis' Erbrochenes wegzuwischen.
Also: Nase zu, und durch.
Manni redet mit sich selbst, und mit...
Als Micha Sommer ihm das Gesicht abwäscht, brabbelt er munter
weiter.
Ihr könnt euch sicher denken, mit wem er andauernd redet.
Schließlich wird sein Genuschel leiser. Noch leiser...Und er schläft,
tief ein - und ausatemd, ein.
Vier Tage später wird Oma Luttis' Asche im offenen Meer verstreut.
Wir nehmen uns ganz fest an den Händen und bilden einen schützen-
den Kreis um Manni.
Das Schiff schwankt.
Und Manni schwankt.
Blauweisse Wolken wandern am Himmel lang.
Manni wirft Blumen in den Wind. Oma Luttis´ Lieblingsblumen.
Zwei gelbe Rosen.
Geschichte & Foto: (c) Ralph Bruse
Träumer
Der Sommerwind schickt Wolken und holt die Sonne.
Wir liegen im Gras. Sehen den Regen kommen.
Da drüben - die Fischbude. Nichts wie hin!
Der Regen ist schneller. Er schüttet uns zu.
Klatschnass bestürmen wir das rettende Dach. Micha hat einen
Schuh verloren. Uli Bittner seine Kippen.
Das Dach über unseren Köpfen ist nicht dicht. Kann lange dau-
ern, bis der Regen aufhört. Kein Problem: echte Männer halten
das aus.
Dann finden wir doch noch ein trockenes Eck, rutschen zusammen,
hören es wie verrückt plattern; reden erst leise und schreien schließ-
lich gegen das Schütten an.
> Ich geh nächstes Jahr vonner Schule ab!, < brüllt Uli.
> Nach der Neunten? Wieso?, < will ich wissen.
> Kein Bock mehr. Kohle verdien’ is’ besser! <
> Denn mußte aber’n Jahr länger Lehre machen. Was willste denn
rabotten? <
> Von Lehre war nich’ die Rede, Atze. Da biste eh nur der Lauftrot-
tel. Nö, den Lehrling spar ich mir. Dafür sack ich gleich die dicken
Radatten ein. <
> Haste denn schon was in Aussicht?, < fragt Micha.
> So gut wie, < prahlt Bittner.
> Und? Spucks aus! <
> Ich fang bei Knörr im Stall an. <
> Als Stallhilli? Astrein, Alter!, < foppt Micha ihn.
> Na und! Ich find Kühe halt total gut! <
> Jo, ich find Kühe auch total gut. Aber gleich ‘n ganzer Stall voll?
Nee, lass ma’ stecken. <
Allmählich lässt der Regen nach. Der See, der vorher grünblau war,
ist jetzt grau. Am anderen Ufer nimmt eine Schwanenmutter ihre
drei Kinder huckepack. Dann watschelt sie gemächlich ins Wasser.
> Der Knörr brauch nich’ zufällich zwei Stallhillis?, < meldet sich
Micha nach einer Weile.
> Glaub nich’. <
Bittner erbarmt sich einer halbnassen Kippe, die er im Schlick,
zwischen morschem Gehölz, findet. Er kramt sein Feuerzeug
raus, nuckelt an der kleinen Kippe, bis sie ganz klein ist.
> Ma’ sehn, vielleicht kann ich dem Knörr klarmachen, daß zwei
Stallheinis besser sind, als nur einer. <
> Und ich?!, < funke ich fast beleidigt dazwischen.
> Sinds schon drei... <
Bittner hat ernste Bedenken. > Also, drei Hillis sind entschieden
zu ville. Da kriegen die Kühe ja glatt ‘ne Krise, weil der Stall so
blitzeblank is’. So schnell könn’ die garnich’ kacken, wir wir mit’n
Besen hinter jedem Arschloch stehn! <
In dem Punkt hat er eindeutig recht. Also muß sich mindestens
einer von uns den Traum vom Stallknecht abschmieren. Da ich
die Arbeit mit Kühen alles in allem auf Dauer nicht so aufregend
finde, ziehe ich die mündliche Bewerbung spontan zurück.
> Ich geh denn auch nach der Neunten ab und werd’ Geschichten-
erzähler, wie Manni! <
> Ganz schön bekloppt, < meint Bittner.
> Das sieht mein Vatter auch so. Macht aber nichts. <
Er bemerkt meine plötzliche Entschlossenheit und verschont mich
mit weiteren Sticheleien.
> Was wiste denn so erzähln? <
> Weiß noch nicht genau. Aber spannend isses garantiert! <
Uli bleibt skeptisch.
> Keine Ahnung. Irgendwas erzähln. Und spannend isses auch
noch? <
Er kratzt sich am Ohr.
> Irgendwie eigenartich, findste nich’? <
> Stimmt...Na gut, denn geh ich erst nach der Zehnten ab, und
werd’ Schriftsteller! <
> Geschichtenerzähler. Schriftsteller. Is’ doch alles dasselbe, ne? <
> Ja. Nee...Schriftsteller schreiben nur Bücher. Und Geschichten-
erzähler erzählen alles rum. <
> Na denn, schreib ma’ schön....Wieville Bücher willste denn schrei-
ben? <
> Fünf! <
> Wieso fünf? <
> Na, eins über dich, eins über Micha, über Manni, Biene und eins
über uns alle! <
Micha findet das, seiner Flunsch nach zu urteilen, genauso bescheu-
ert, aber ansonsten garnicht so schlecht.
> Was erzählste denn über mich? <
> Weiß ich doch jetzt noch nicht! <
In meinem Kopf nimmt der Plan konkrete Formen an.
> In sieben Jahren fang’ ich an, zu schreiben! <
> Erst in sieben Jahren? Komm ich nich’ mehr mit. Also, fünf Bücher.
Aber erst in sieben Jahren? <
> Sag ich doch! <
> Kannst ja viel erzähln. Schwör...! <
Nichts leichter, als das.
> Ich schwöre! <
> Okay, in sieben Jahren. Und ohne Scheiss! <
> Hundertpro. Wenn ich zwanzig bin, fang ich an. <
> Und was schreibste so über mich?, < löchert Uli.
> Verrate ich nicht. Über Manni schreib ich wahrscheinlich mehr,
als über dich. <
Das findet er ungerecht. Ich klopfe ihm tröstend auf die Schulter
und gelobe dafür, über seine harte Arbeit im Kuhstall besonders
viel zu schreiben.
Das beruhigt ihn. Schließlich winkt er ab.
> Ich glaub, das mit dem Stallhilli überleg ich mir noch. Vielleicht
häng ich doch noch Oberschule dran, und werd’ denn Sportlehrer...
Für Mädchen! <
Sein bekanntes Grinsen taucht wieder auf.
Auch Micha macht plötzlich einen Rückzieher.
> Okay, Ihr Streber. Denn zieh’ ich eben auch noch bis zur Zehn-
ten durch und lern’ was Unanständijes. <
> Und das wäre? <
> Bücherschreiber, zum Beispiel. <
> Nix da!, < protestiert da jemand. > Bücher schreib ich! <
> Na und! Denn schreib ich die ersten drei Wälzer, und du den Rest.
Is’ doch’n Angebot, ne? <
Weil zwei Bücher schreiben deutlich weniger anstrengend ist, wie
fünf Bücher schreiben, willige ich nach kurzer, intensiver Bedenkzeit
ein.
> Ihr habt ‘n Rad ab. Undzwar alle beide!, < stellt Bittner trocken
fest.
Wenn schon.
Der Regen hat aufgehört. Die Luft raucht. Äste knacken. Die Sonne
kommt wieder raus. Wir rennen ihr entgegen.
(c) Ralph Bruse
Ende