Kinderheim in Krassow (bei Wismar)

In Kürze vorweg:

Ostdeutschland in den siebziger Jahren...Ein verwittertes,
schlossähnliches Haus in einem kleinen Kaff, in Ostseenä-
he...Hier leben ´schwere´ Jungs und Mädchen. Frank*,

der Ich-Erzähler, ist einer von ihnen.
Befehl der Staatsoberen: Zucht, Ordnung und den Sauhau-
fen wieder auf Linie bringen.
Doch irgendwie scheint es öfter mal andersherum zu laufen.
Das hier ist die Geschichte eines schweren Jungen - entstan-
den nach wahren Begebenheiten: kratzig, frech, mal zart und

verspielt, dann wieder hart und schnörkellos - und immer

frei Schnauze.


Kastanienallee 95


An der Hausecke huscht ein Schatten entlang. Im Licht der
klappernden Straßenlampe erkenne ich Hink. Ich rufe ihn.
Winselnd humpelt er näher und sackt japsend zu mir, auf
die Kellertreppe.
Hink ist mein einziger Freund. Wir kennen uns seit Jahren.
Eigentlich kommt er nur dauernd angewackelt, um mich
wegen eines Kottelettknochens anzuschnorren - der drei-
beinige, verlauste Straßenköter. Das vierte Bein, hinten
links, kann man nicht Bein nennen, weil Hink es wegen
seiner Fingerlänge nicht mehr zum Laufen benutzen kann.
Wie ein überflüssiger Schwanzstumpen baumelt der ver-
krüppelte Rest des Beins in der Arschgegend herum. Ein
alter Straßenkämpfer, den niemand haben will.
Wir rücken näher zueinander hin. Meine Hand sucht Hinks
Schlappohren. Ich kraule sie. Seltsamerweise kommt mein
trommelndes Herz davon immer langsam zur Ruhe.
Hink knurrt auch behaglich und wälzt seinen Zottelkopf mit
den vielen Parasiten drauf, in meinem Schoß hin und her.
Sofort packt mich wilder Juckreiz. Erst am Bauch, dann un-
ter dem Hosenbein - genau da, wo sich die Mischung aus
Bernhardiner und Cockerspaniel fletzt.
Man will den alten Zausel ja nicht beleidigen. Also flüchte
ich mich sanft wie eine Ringelnatter aus seiner Belagerung
und geh in Richtung Abfalltonnen davon.
Hink humpelt treuherzig hinter mir her. Er weiß genau, daß
es jetzt auch was für seine alten, abgewetzten Zähne gibt.
Stockfinster ist es hier draußen. Ich krame in der Hosenta-
sche herum, zünde ein Streichholz an und hebe einen der
Tonnendeckel an. Ein Schwarm aufgescheuchter Fliegen
saust an meinen Ohren vorbei und flüchtet sich surrend in
die Nacht.
Ich finde einen fetttriefenden, bräunlich gewordenen Kno-
chen, der irgendwie verschärft nach Verwesung riecht. Aber
Hink ist sehr zufrieden mit meiner Wahl. Wie ein vor Hunger
Sterbender schnappt er sich den stinkenden Knochen, um ihm
auf der Stelle das letzte bisschen Fleisch und Fett abzuziehn.
Ich selbst ergattere ein nicht viel besser erhaltenes Stück Mar-
morkuchen, das außen herum ziemlich schwarz aussieht. War
wohl zu lange im Backofen.
Macht nichts. Ich breche den verkokelten Kuchen in der Mitte
auf - und siehe da: von innen sieht das Ganze schon viel appe-
titlicher aus. Der Mund steht mir schon sperrangelweit offen,
noch ehe ich den Kuchenhappen, dürftig von Ruß und Asche
befreit, gierig in mich stopfe.
Hink frisst wieder mal für zehn. Seine Nase stößt mich, Nach-
schlag fordernd, am Handgelenk an.
Heute ist sein Glückstag. Ich finde einen weiteren Knochen für
ihn in der Tonne. Der unbekannte Spender hatte den Wanst wohl
so mit Fleisch voll, daß nichts mehr reinging und trotzdem viel
an Saftigem am Knochen blieb.
Hink will schon nach dem Leckerbissen schnappen, als ich plötz-
lich die Hand wieder zurückziehe. > Bevor du da jetzt reinbeisst,
muß ich dir was sagen... <
Hink jault jämmerlich. Verständlich: er will nicht meine Predigt
hören, sondern seinen geliebten Knochen.
> Du bist mein einziger Freund und ich hab nur dich zum Quat-
schen...Also, vorhin, bevor du gekommen bist, weißte...<
Nee, weiß er nicht. Will er auch nicht wissen. Er schnappt ein-
fach nach dem Knochen und plumpst an meine Seite. Ich höre
sein Schmatzen und Gehechel - und bilde mir ein, er würde sa-
gen: das Leben ist knüppelhart, aber wir sind härter.
Sagt er auch nicht, der doofe Hund. Der redet ja nie - kann nur
schnorren und gelegentlich bellen. Trotzdem: er ist jeden Abend
hier, auf ihn ist Verlass, er hört mir zu, quasselt nicht beim Kno-
chenzerbrechen und auch sonst nicht viel, wie schon erwähnt. Er
ist da: nur das zählt. Das öde Leben wird etwas leichter davon.

Eine Weile lang lungern wir noch dösend und frierend an den
Mülltonnen herum. Dann zockelt Hink träge davon. Die Nacht
verschluckt ihn ebenso lautlos, wie sie ihn hierher ausgespuckt
hat.

Erst weit nach Mitternacht ruft mich meine Mutter herein. Die
vier glücklicheren Geschwister schlafen längst. Mutter wirft mir
die Gummihose vor die Füße. > Hier, du Bastard... Damit Du
nicht wieder das Bett vollscheisst! <
Dann jagt sie mich vor sich her, ins Kinderzimmer. Die Tür fällt
zu. Ich liege in meinem Bett und horche in die Stille. Nur der
Atem meiner Geschwister ist zu hören. Auch ihr leises Gelalle
und Schnarchen.
Ich träume auch schon mal...Von dem Tag, an dem ich dieses
Zuhause verlasse und endlich hier rauskomme!

Am anderen Morgen scheucht mich meine Mutter aus den Fe-
dern. > Los, hoch mit dir! Du bist zwar völlig verblödet, aber
Schule kann Dir nicht schaden! <
Sämtliche Geschwister haben das Haus schon verlassen. Alles
Berechnung. Jetzt kann Mutter mir noch 'ne ordentliche Tracht
Prügel verpassen, ehe ich rausdarf, zur Schule.
Ich schloddere vor Angst. Wollte eigentlich alles ändern und zu-
rückschlagen, aber jetzt ist sie doch wieder da, die elende, nack-
te Angst!
Aus meiner Gummihose stinkt es bestialisch. Hab wieder mal
eingeschissen - auch vor Angst. Mutter bleibt das nicht verbor-
gen. Erstmal zerrt sie so an meinen Haaren, daß Büschel davon
in ihren Händen zurückbleiben. Dann fliegt mir eine Eisengabel
entgegen, die sie in der Küche zu fassen kriegt. Ihr Wurf ist ver-
dammt gut. Volltreffer, sozusagen. Die Gabel bleibt mir im nack-
ten Oberschenkel stecken.
Ich schreie auf vor Schmerz! Blut rinnt am Bein runter. > Mutti!, <
jammere ich. Nur das eine dumme, nicht verstehende: MUTTI!
> Stell dich nicht so an, Hosenscheißer!, < keift sie. Und reisst mir
die steckengebliebene Gabel aus dem Bein heraus.
Sie jagt mich ins Badezimmer und wirft mir den Wischfeudel hin.
> Los, wasch dir die Scheiße vom Bein, und ein bisschen plötz-
lich! Aber das warme Wasser bleibt zu! <
Sie reisst das Fenster sperrangelweit auf, schmeißt mich zur Seite,
so daß ich kopfüber in die Wanne fliege, grinst auf mich runter,
und trampelt zur Tür, die sie hinter sich abschließt.
Wimmernd wische ich Blut und Scheiße von meinen Beinen, spü-
le mit kaltem Wasser nach und warte.

Eine Stunde vergeht. Ich wage nicht, das offene Fenster zu schlie-
ßen. Nackt und frierend steh ich auf dem Kachelboden. Sechzig
ewige Minuten lang.
Dann endlich die Schritte meiner Mutter im Flur. Als sie die Tür
öffnet, hält sie die schwere Ofenschaufel in der einen Hand. Jetzt
heißt es: Gas geben, um so wenig Schläge wie nur möglich davon
abzukriegen.
Ich stürme an ihr vorbei, stolpere über Mutters ausgestreckten Fuß
und stürze hin. Zwei harte Schläge treffen meinen Hinterkopf. Mir
wird schwindelig. Will nur noch am Boden liegenbleiben und kre-
pieren. Aber sie reisst mich hoch und wirft mich wie einen ausge-
stopften Sack ins Kinderzimmer.
> Zieh dich an, du Mistgöre, undzwar zacki! <
Tranceähnlich klettre ich zitternd und umständlich in meine Sa-
chen. Greife nach dem Tornister, klopfe voller Angst an die Zim-
mertür - sie öffnet - und dann flüchte ich mich an sie vorbei - ins
Freie.

Geschafft!
Wie besoffen torkle ich die Straßen entlang. Die Beulen an mei-
nem Hinterkopf schwellen bedrohlich an. Zumindest fühlt es sich
so an, als würden da Hörner wachsen und wachsen. Groß wie halb-
reife Birnen.

Ich schwänze die Schule. Da lachen sie mich bloß wieder aus we-
gen der Pestbeulen. Ja, Pestbeulen gackern einige in der Klasse im-
mer und bepissen sich fast vor Lachen.
Die können mich alle mal!
Nur widerwillig lässt der pochende Schmerz am Kopf nach. Ich
stapfe rüber zum Mühlenteich, werfe den Tornister ins Wasser, und
einen dicken Frosch, den ich vorher zu Brei getrampelt hab, hinter-
her. Ich suche das Schilfufer nach weiteren Fröschen ab, finde aber
keinen mehr. Reiße dutzende Pumpeselstiele aus dem schlammigen
Grund und zerfetze sie mittlings. Die braunen Schilfstengel hätt ich
auf dem Wochenmarkt gut und gern für zwei Mark das Stück ver-
kloppen können. Aber jetzt lynche ich sie, zerfleddre sie in zig Ein-
zelteile, die mir nur so um die Ohren fliegen. Wie im Rausch schla-
ge ich nach allem, was mir in die Quere kommt.
Ein Schwanenpärchen schwimmt in sicherer Entfernung vorbei.
Ich reiße den größten Stein, den ich finden kann vom Boden hoch
und schleudere ihn wütend aufs Wasser. Panikartig rauschen die
friedlichen Schwäne davon.
Erst als ich nichts Brauchbares mehr auftreibe, das zerstörbar ist,
legt sich die brennende Wut. Heulend wie ein sterbender Wolf sin-
ke ich am Ufer hin.
Nie wieder geh ich nach Hause zurück. Niemals wieder! Ich geh
nicht mehr zur Schule und werde mich klauend durchs Leben schla-
gen. Ja, Dieb und Gammler will ich sein!
Na und!...Und wenn ich groß bin, zittert die ganze Gegend vor
Frank, den gefürchteten Anführer einer Verbrecherbande!
In blühender Phantasie malte ich mir schon aus, wie ich Befehle er-
teilte und wie ich jeden verdresche, der nicht gehorcht.
Dann stieg das Bild der Mutter wieder vor mir auf... Ihr aufduppier-
ter Zauselkopf mit den kalten Fischaugen in dem eigentlich harmlos
wirkenden Gesicht. Ihr verkniffener Mund unter der spitzen Rat-
tennase, mit großen Kaffeeflecken-Sommersprossen drum herum...
Für die Furie werde ich mir dann was ganz Besonderes ausdenken.
Vielleicht werde ich sie kidnappen, durstig wie eine Bergziege in der
Wüste aussetzen und sie vor mich herjagen - in einem Hubschrauber
natürlich, mit ´ner eisgekühlten Flasche Wasser unten dran. Und im-
mer wenn sie danach schnappen will, steigt der Hubschrabbschrabb
ein paar Zentimeter höher. Das Spielchen machen wir solange, bis
sie eine Sandgrube gräbt, in der sie um Gnade winselnd liegenbleibt,
bis sie die Geier holen...Oder Gevatter Tod. Einer muß es ja richten...
Mit diesen Flausen im Kopf ging ich schon viel besser gelaunt davon.

 

Eigentlich war´s ein schöner Tag im Oktober, damals. Aber mich in-
teressierte nicht das schöne Tageswetter. Ich mußte was in meinen
knurrenden Magen kriegen.
Und hatte Glück. Es war Erntezeit. Die Bäume am Straßenrand hin-
gen voller Äpfel. Und auf den Feldern am Stadtrand aalte sich reich-
lich reifes Gemüse in der milden Mittagssonne. Ich mopste mir zwei
Kohlrabis und zwei ulkig aussehende Krummgurken zusammen und
ließ mich schließlich in weiches Gras fallen. Schmatzte gemütlich
und ließ mich von der warmen Sonne pieken. Die holzigen Kohlrabi-
schalen zog ich garnicht erst ab. Nur die gröbste Ackererde wischte
ich an meiner Hose ab. Dann wurde der Hunger übermächtig und ich
biss abwechselnd in die Säbelgurken und die zähen Kohlrabis.
An Hink mußte ich denken, den alten, lahmen Hund. Wie lange er
wohl auf mich warten wird, heut' Abend? Vielleicht die ganze Nacht.
Und ich, sein einziger Kumpel, der ihm immer leckere Knochen be-
sorgt, werde wohl nicht kommen.
> Hink, du wirst dir ´nen anderen Freund suchen müssen, weil ich
jetzt nämlich Gammler werde. <
Schon überfällt mich das schlechte Gewissen.
Der alte Knabe wird elendig verhungern ohne mich. Dem gibt ja
kein Aas was zu Fressen. Einem hinkenden Köter, mit 'ner haus-
eigenen Flohzucht im Pelz gibt keiner nix. Oft genug hab ich ge-
sehn, wie die Alten ihn von ihren Häusern verjagt haben. Und die
Kinder ballern mit ihren Katschies nach Hink.
> Blöder Hund, < knurre ich mürrisch. > Warum mußt du dich
auch wie ´ne Klette gerade an mich hängen...<

Ich vertrödel den Tag, da draußen, am Stadtrand. Je näher die
Zeit rückt, nach Hause zu gehn, desto mehr packt mich wieder
mal die panische Angst vor meiner Mutter... Wir sind fünf Kin-
der zu Hause, und ausgerechnet ich kriege Kloppe nach Strich
und Faden. Okay, wir sind nicht gerade reich und meine Mutter
hat´s auch nicht besonders leicht mit einem Mann, der ständig
besoffen von der Arbeit zuhaus angewackelt kommt. Trotzdem:
Vatter ist brav wie ein Lamm, egal ob er gerade nüchtern oder
blau ist. Nie würde er eins seiner Kinder verprügeln. Aber gera-
de seine Gutmütigkeit ist ja das blöde. Paps ist zu brav und merkt
auch nichts, vor lauter Suff. Aufmucken ist auch nicht seine Stär-
ke, also zieht er lieber den Kopf ein, wenn Mutter loswettert. Sie
wettert ja viel - eigentlich in einer Tour, kreischt sich noch zu To-
de....Nichts dergleichen passiert. Von der Kreischerei fällt sie je-
denfalls nicht tot um.
Paps hält das Gekreische auch nie lange aus. Entweder kommt er
garnicht, oder erst spät zur Nacht nach Hause - voll wie tausend
Mann. So weiß er natürlich auch nicht, daß sein einer Sohn den
ganzen Frust seiner Frau in Dresche kassiert.
Mutter arbeitet in einem Kaufhaus, ist da schon sowas wie 'ne
Abteilungsleiterin. Immer scheissfreundlich, aber wehe der Fei-
erabend rückt näher...Dann wird aus der freundlichen Verkäuferin
eine Wildsaumutter. Nur keine, die sich liebevoll um ihre kleinen
Schweinchen kümmert.

Langsam erhebe ich mich und gehe den Feldweg zurück. Die A-
bendsonne flimmert nur noch schwach über der Stadt. Immer
wieder halte ich an, sehe zurück, schau nach vorn und kriege das
große Zittern.
Aber dann fällt mir Hink ein und das Wörtchen Verantwortung -
und geh weiter. Biege in die Straßen der Stadt ein, geh immer
weiter. So lange, bis der graue Wohnblock der beschissenen Kin-
derzeit sich wieder bedrohlich in Augen und Gedanken bohrt.

An diesem Abend kommt Hink nicht. Jedenfalls nicht gleich.
Ich fange schon an, mir Sorgen zu machen. Da wandelt sein gro-
ßer Schatten im Straßenlicht näher. Er sackt neben mir hin und
jappst und junkt nicht wie sonst, wenn er mich schwanzwedelnd
erspäht. Diesmal winselt er jämmerlich. Er muß Schmerzen haben.
Bist eben nicht mehr der Jüngste, alter Knabe, sag ich mitleidig
und streichle ihm die filzige Wolle.
Ich zucke zusammen! An meinen Händen klebt Blut, das wie war-
mes Wasser nur so aus seinem Fell rausläuft.
Ich springe auf und versuche ihn dazu zu bewegen, ein paar Meter
vorzurutschen, in den Lichtschein der Straßenlampe.
Er ist zu schwach. Er winselt nur kläglich und jault knurrend auf,
als ich die blutende Stelle auf seinem Rücken ertaste.
> Halt still! Will dir doch nur helfen! <
Ich kneife angestrengt die Augen und beuge mich tiefer hinab.
Mir stockt der Atem! Eine riesige, klaffende Wunde zieht sich vom
Rücken runter, bis zum Bauch. Jemand hatte - wahrscheinlich mit
einer Axt, tief in Hinks Leib geschlagen. > Die Schweine!, < schrei-
e ich ungehalten. > Schweine seid ihr!, < brülle ich wütend. > Hink
hat euch doch nichts getan! <
Immer mehr Blut tropft aus seinem Fell in meine Hand. Jetzt knurrt
er auch nicht mehr, wenn ich den blutenden Riss berühre. Der Ver-
such, mit meiner Hand den Blutstrom der Wunde zu stillen, ist lächer-
lich. Aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Presse dagegen, aber
das Blut läuft mir durch die Finger davon, rinnt auf die Kellertreppe
hinab und wird, unten angekommen, zu einer riesigen Pfütze.
> Stimmt, ich bin sogar zu blöd einem Freund zu helfen!, < jammere
ich hilflos.
Tränen schießen mir in die Augen.
> Mutter hat Recht...Bin sogar zu doof, 'n Eimer Wasser umzukip-
pen!, < heule ich lautstark. > Schwachköpfe können nichts...Gar-
nichts! <
Hink rührt sich kaum noch. Er ist zu schwach aufzustehen und auch
zu geschwächt, um die wahnsinnigen Schmerzen zu bejaulen. Sein
Leib zuckt und windet sich, aber sein Jaulen ist kaum noch hörbar. Er
wird sterben.
Dann tue ich etwas, was ich seit Jahren für ihn tu...Renne rüber, an die
Abfalltonnen und wühle fieberhaft darin herum. Und das kleine Glück
sonstiger Tage meint es auch heute gut mit uns. Ein großer Knochen
liegt nun in meinen blutverschmierten Händen. Ich renne zurück, hoc-
ke mich zu ihm, hebe seinen Zottelkopf in meinen Schoß.
> Kuck mal, Hink..Für dich. Ist das nicht  'n Super-Exemplar?! <
Seine müden Augen blitzen nocheinmal kurz auf, wie das Licht eines
Leuchtturms in der Ferne. Er kann den Knochen nicht mehr zerbeißen.
Ein paar Mal leckt er nur an den saftigsten Stellen. Und als ich den
Knochen heulend zu Boden sinken lasse, hebt Hink mühsam seinen
mächtigen Kopf und leckt mir nocheinmal die Hand. Sieht mich an
und dann liegt er ganz still und erlöst von seinen Schmerzen da.
Ich schlinge meine Arme um den noch warmen Leib des Freundes
und wünsche mir nichts mehr, als mit ihm zu sterben - genau jetzt -
wie er. Will mit ihm in eine andere Welt gehn - wo es uns beiden
besser geht.

Von weit her dringt Mutters Stimme an mein Ohr.
Sie ruft mich herein, oder besser: befiehlt es in schneidendem Ton.
Ich bleibe - und spucke auf ihre Schläge, die es dafür wieder geben
wird, morgen.
Die ganze Nacht lang sitz ich dort draußen auf der dunklen Keller-
lertreppe und umarme meinen toten, besten Kumpel.
Stunden ziehn dahin. Unbarmherzig graut der andere Morgen. Jetzt
bin ich ganz allein auf der beschissenen Welt.

ln der Schule läuft jetzt nichts mehr rund. Gehe zwar ab und zu
noch hin, aber nur weil die Tage draußen kühler werden und die
Äcker abgeerntet sind.
Der glibberige Schulfraß aus riesigen Blechkübeln ist immer noch
besser als garkeiner. So gibts wenigstens einmal am Tag was War-
mes in den Bauch.
Mutter hab ich vorgeflunkert, mein Schulranzen sei mir geklaut
worden. So 'n Trottel bin ich denn doch nicht, ihr zu beichten, ich
hätte die gesamten Schulsachen im Mühlenteich versenkt.
Trotzdem hagelte es Kloppe, und das nicht zu knapp.
Jetzt zockle ich mit Papas altem Leinenbeutel zur Schule, mit dem
er manchmal am Wochenende über Land fährt, um Steinpilze und
Pfifferlinge für uns darin zu sammeln.
Früher hab ich auf so mancher Kellertreppe, in Schulnähe, noch
schnell meine Hausaufgaben hingekritzelt, aber das hat schwer
nachgelassen.
Wozu soll das noch gut sein?! Bin ohnehin das Schlusslicht in der
Klasse, in Bezug auf Leistung und auch bezüglich miesen Betra-
gens. In diesem Jahr werde ich wohl backen bleiben. Doofe wer-
den ebend nicht versetzt!
Manchmal klopp ich mich mit den anderen, und wenn ich nicht
gerade schulschwänze, muß ich mitten im Unterricht aufs Klo, um
zu kotzen. Manchmal muß ich auch gleichzeitig kotzen und Durch-
fall scheißen.
Natürlich riech ich danach immer wie ein Stinktier und die anderen
in der Klasse rücken angeekelt von mir weg. Einmal hat mich der
Deutschlehrer zur Seite genommen, weil er wissen wollte, was mit
mir los ist. > Junge, du siehst garnicht gut aus. Hast du was Schlech-
tes gegessen? Und immer die Schrammen und Beulen, da, an dei-
nem Kopf - so oft kann man doch garnicht hinfallen, oder irgendwo
gegenrennen, wie du mir weismachen willst. <
Er schüttelt mich. > Na, sag schon, hast du Kummer zu Hause? <
Ich schweige wie ein Grab.
Mir geht ´s beschissen, das muß ihm genügen. Was geht ihn das an,
wo ich gegenrenne, oder mein angegammeltes Essen herhole. Er
kann eh nichts dran ändern.

So geht das eine Weile weiter. Mal geh ich zur Schule, dann bleib
ich tagelang weg. Jetzt, wo die Tage kürzer und kälter werden, su-
che ich Unterschlupf in Einkaufsläden. Hab ja keine müde Mark
in der Hosentasche, aber was solls. Stundenlang trödel ich in den
Läden rum, moppse hier mal 'n Wienerwürstchen und wenn ich
Lust auf Stieleis hab, dann mopps ich ebend davon eins. Ab und
zu erwischen mich die Verkäuferinnen, aber meistens läuft alles
wie geschmiert. Einmal hat mich so ein junges Mädchen erwischt,
als ich gerade zwei Brötchen einstecken wollte. Sie hat mich mit-
leidig angeglotzt, hat mir eine Mark in die Hand gedrückt, mir
die Brötchen wieder abgenommen und mich zur Tür rausgescho-
ben. Ein anderes Mal bin ich an so 'ne olle Schachtel geraten. Hat
die vielleicht ein Tamtam gemacht, wegen einer mickrigen Süssta-
fel-Schokolade. > Haltet den Dieb!, < wetterte sie, als hätt ich mit
vorgehaltener Wasserpistole gerade den Laden überfallen.
Im Ernst: die Oma hatte 'ne Kreische an sich, daß das halbe Wohn-
viertel angerannt kam.
Ich rücke die Schokolade also freiwillig wieder raus und zeig' der
hysterischen Muhkuh 'nen Vogel und die weit rausgestreckte Zun-
ge. Sie klebt mir eine und nach einer halben Stunde ist die Polente
da.
Die haben mich gut behandelt auf der Polizeiwache, haben mir so-
gar Dropse und Kekse gegeben.
Dafür hat Mutter mich dann später halb tot geschlagen, kaum daß
die Polypen außer Hörweite waren.

 

Mittlerweile ist ein anderer aus mir geworden. Früher bin ich Mut-
ter ausgewichen - bin weggerannt vor ihren harten Schlägen - wenn
es denn ging.
Jetzt stell ich mich einfach hin und kassiere jeden Hieb und jeden
Gegenstand, der mir um und an den Kopf fliegt. Hab einfach aufge-
geben - will nur noch, daß mich endlich der entscheidende Hammer
an der richtigen Stelle trifft. Umkippen, abkratzen - das kann doch
nicht so schwer sein.
Aber Mutter donnert mir eine nach der anderen, und ich fall einfach
nicht um. Der ganze Kopf ist eine einzige, blutende Beule und mein
Magen eine gründlich durchgerührte, gärende Grube. Das eine Ohr-
läppchen ist tief eingerissen und zum Ohrlappen mutiert, weil Mut-
ter dauernd mit voller Kraft daran herumzerrt, wie es ihr gerade so
Spaß macht. Und zu Essen gibt ´s nur noch was für mich, wenn
Paps zufällig mal im Haus ist und nicht gerade auf Tour de Trance.
Kriege sowieso nicht viel runter. Ständig hab ich Magenkrämpfe
und kauen kann ich auch nicht richtig, weil die rotgeschlagenen
Wangen höllisch schmerzen und aussehn, wie die von Bugs Bun-
ny.

In letzter Zeit muß ich oft an Hink denken, an meinen dreibeini-
gen Freund. Ob er wohl im Himmel (die sich hier unten, auf der
Erde durchkämpfen mussten, kommen gerechterhalber immer in
den Himmel, denke ich mal voller Bitterkeit und kurz vor´m Lach-
anfall) auch so leckere Fleischknochen kriegt, wie hier unten?
Während ich, eingesperrt im Bad, auf den kalten Steinkacheln
stand und auf meinen lädierten Körper runtersah, grübelte ich an-
gestrengt darüber nach, wie ich es anstellen konnte, um Hink end-
lich im Himmel wiederzusehn. Bestimmt lümmelt er sich jetzt ge-
langweilt am Einlass rum, und lässt nur die rein, die ihm was mit-
bringen...
Hink wird mich verstehn. Und den fettesten Knochen bring ich
auch mit. Zwei mal drei Meter, von einem Afrika-Elefanten.

Vielleicht sollte ich ins Klo scheißen, meinen Kopf reinstecken
und warten, bis ich erstunken oder ersoffen bin.
Das kann aber lange dauern. Zu lange.
Besser, ich steck meine Nase tief in den Gasboiler und warte,
bis der schmerzende Kopf Feuer fängt.
Das dauert aber noch länger und ich muß auch zu lange leiden.
Also gut, oder nicht gut: dann lass ich 's ebend. Bin ja sowieso
zu blöd zu allem. Trottel, wie ich, können sich ja nicht mal or-
dentlich erhängen. Eher schmeiß ich noch den Stuhl um, auf
den ich steigen will.

Wieder die Schritte meiner Mutter im Flur. Sie schließt auf
und jagt mich ins Bett, ohne einen Happen Abendbrot im
Bauch. Schläge gibt es ausnahmsweise mal nicht, weil (pssst)
der Papa zuhause ist. Falsche Schlange, die! Verkloppt mich
nur, wenn sie sicher sein kann, daß niemand in der Nähe ist.

 

An Heilsbringer kann ich logischerweise nicht mehr glauben,
aber in dieser Nacht bete ich zum allerersten Mal sämtliche
Wünsche runter.
Eigentlich nur vier bescheidene. Liege da, starre die Zimmer-
decke an, verkralle die Finger ineinander und flüstere: > Ich
wünsch mir, daß ich bald meinen Kumpel Hink wiederseh.
Dann wünsch ich mir, daß Hink richtig Kohldampf hat, weil
er meine Mutter auffressen muß, oder darf - kommt auf die
Sichtweise an.
Ich wünsch mich weg von hier, weit weg aus dieser Stadt. Und
ganz zum Schluss wünsch ich mir, daß wenigstens einer meiner
vier Wünsche in Erfüllung geht.
Ein schwaches Lächeln bei dem Gedanken an Hink, der sich
bestimmt dankbar und furchtbar zähnefletschend über meine
kreischende Mutter hermachen wird. An der ist ja auch schwer
was dran, was gefräßige, große Hunde glücklich macht.
Schließlich zähle ich langsam und genüsslich: ein Bein, ein
Knochen, noch ein Bein...zwei Arme...schon vier Knochen...
dann fünf und sechs...

 

                                                 ***

 

Manchmal werden Wünsche auch wahr.
Hink ist zwar nicht wieder aufgetaucht, um Mutter in Stücke
zu reißen. Aber immerhin passierte endlich was. Das ist fast

wie im Märchen: es gibt die gute Fee und es gibt die böse He-

xe. Wer die böse Hexe ist, ist ja wohl ziemlich klar. Und die gu-

te Fee ist Frau Licher, die Sportlehrerin an der Schule. Sie ent-

deckt meine vielen bunten Flecken und Beulen in der Umkleide

und alarmiert kurzerhand das Jugendamt. Die fackeln auch

nicht lange und holen mich schon am darauf folgenden Tag ab,

um mich für immer von hier wegzubringen.

 

*Name geändert

 

 

2.
Wir fuhren zur Stadt hinaus. Es war noch früh am Morgen.
Der Abschied, vorhin, war kurz und schmerzlos. Nicht einmal

hab ich zurückgesehn. Nicht ein einziges Mal. Hab meinen Ge-

schwistern nicht zum Abschied gewunken, auch nicht dem aus-

nahmsweise mal nüchternen, verdatterten Vater. Und erstrecht

nicht der rabiaten Mutter. Wie sie so dastanden, vor der Haustür,

die ganze doofe Sippe...Ich hätt 'ne Granate reinpfeffern können!

Keinen aus der Familie, die nie meine war, wollte ich jemals wie-

dersehn! Adieu, ihr Lieben!

Nasses Straßenlaub klatscht an die Autoscheiben. Es ist neblig.

Als wir die Stadt weit hinter uns gelassen haben, fahren wir wei-

ter auf einer holprigen Landstraße.
Links und rechts der Straße liegen, unter einer dicken Nebelsup-

pe versteckt, riesige, abgeerntete Stoppelfelder.
Der Mann hinterm Steuer reicht mir die schwere Hand nach
hinten, nimmt meine in seine und stellt sich als Herr Rosini-
us vor. Die Frau, daneben, schließt sich dem an und heißt Al-
brecht. Frau Albrecht ist die Leiterin des Heimes - meines
neuen Heimes. Sie erzählt mir etwas darüber, vielleicht in der
Absicht, mich zu erheitern, merkt aber schon bald, daß ich mir
kein Bild von ihrem Süssholzgeraspel machen kann. So fragt
sie mich schließlich, was ich mir denn so unter einem Heim
vorstelle?
> Weiß ich nicht, < ist die gestotterte Antwort.
Dann rutscht mir die folgende Gegenfrage raus: > Ist es da wie
im Gefängnis? So mit Gitter vor den Fenstern? <
Frau Albrecht lacht herzhaft und schüttelt ihren eher kleinen
Wuschelkopf vor Entzücken. > Nein Junge, so ist es bei uns
sicher nicht. Lass dich einfach mal überraschen...<
> Ja, < grummle ich ziemlich erleichtert und atme tief durch.


Nach etwa einstündiger Fahrt biegt der Wagen in eine Dorfstra-
ße ein. Krassow, Kreis Wismar, steht auf dem Ortsschild. Und:
Kastanienallee. Es geht holterdipolter über die ramponierte
Straße weiter. Nach fünfhundert Metern Kopfsteingeschüttel er-
hebt sich am allerletzten Ende der Kastanienallee ein ziemlich
prächtiger Bau - eher ein Schloß in Miniausfertigung im auf-
reißenden Morgendunst. Das große Eisentor, davor, steht offen
und wir fahren um ein Blumenrondell bis an eine riesige Terras-
se, die rauf, zum Schloßeingang führt.
> Übrigens, das Tor da drüben ist immer offen. Sind ja hier nicht
im Gefängnis, <  sagt Herr Rosinius und lacht mich aufmunternd
an, während er mich aus dem Wagen hüpfen lässt.
Ich blicke mich kurz um. Rechts des Gutshauses, das ab jetzt nur
noch Schloß heißt, steht etwas versteckt, unter mächtigen Kasta-
nienbäumen eine niedrige Baracke, die im Vergleich zum schö-
nen Schloß eher wie ein mickriger Flachbau für freilaufende Hüh-
ner aussieht.
> Das ist die Schule, die du künftig besuchen wirst, < erklärt Herr
Rosinius.
Na gut, denk ich mir. Schule muß wohl sein.
Frau Albrecht, die Heimleiterin, ist schon im lnnern des heimeligen
Schlosses verschwunden.
> Und da oben...< Herr Rosinius hebt seinen Arm in Richtung Schloß-
dach. > Da schlafen die Mädchen. Aber dafür bist du ja wohl noch
nicht alt genug. <
Werden wir ja sehn, denk ich trotzig. Zu jung finde ich mich jeden-
falls nicht. Zu doof schon, aber nicht zu grün hinter den Ohren.
> Da drüben...< Er schwenkt nach links. > Im Schloßanbau...Da seid
ihr Jungs zum Schlafen untergebracht. Da gibts auch Freizeiträume
und Fernsehzimmer. <
Fernsehzimmer?, überlege ich, am Gehör zweifelnd. Wie sieht so ein
Glotzkasten überhaupt aus? Da wo ich herkomme, gab es keinen Fern-
seher. Nicht mal 'nen Kassettenspieler. Zu teuer. Ein Radio, ja, das hat-
ten wir, das stand bei uns in der Küche und hatte auch den prima Nut-
zen, daß Mutter es lauter drehen konnte, wenn ich vor Schmerzen auf-
schrie.
Ich zitterte merklich bei diesen Gedanken.
Herr Rosinius legte seinen Arm um meine Schultern und sagte: So,
und jetzt woll´n wir mal sehn, ob wir noch ein freies Bett für dich fin-
den.
Er führt mich in den Schloßanbau. Mächtiger Lärm herumtobender
Jungs dröhnt durch breite Flürgänge. Doch allein das Erscheinen von
Herrn Rosinius flößt ihnen Respekt ein und es ist augenblicklich still
im Flur. Nein, Angst scheinen die Jungs nicht vor dem Mann an mei-
ner Seite zu haben - nur höllischen Respekt. Mit dem dunklen Voll-
bart und dem ebenso dunklen, gewellten, nackenlangen Haar sieht
der Erzieher auch ziemlich wild aus. Gutmütiger Wilder, vermute ich
mal.
Auch der Neuankömmling - also ich - trage wohl zur plötzlichen To-
tenstille im Flur bei. Neue wecken schließlich auch Neugier und müs-
sen erstmal mit Röntgenblick inspiziert werden - klarer Fall.
Links und Rechts der langen Flurgänge sind jeweils fünf Türen einge-
lassen, die in die einzelnen Zimmer führen. Herr Rosinius stoppt am
Ende des Ganges und öffnet die Tür, links.
> Hereinmarschiert!, < flappst er.
Drei Jungen in meinem Alter huschen vom Flur hinter uns her, ins
Zimmer. Dort, an der längeren Wand, stehn zwei Doppelstockbetten.
Gegenüber, die Fenster, haben Gardinen und die Kleiderschränke im
Türeck sind ziemlich neu und nicht vom Sperrmüll. Der Raum ist groß,
mit hoher Decke und geblümten Tapeten an allen Seitenwänden. Was
mir aber besonders auffällt: hier ist es so furchtbar sauber, daß der
neue Bewohner den blitzeblank gebohnerten Linoleumboden beglotzt,
als wär das jetzt der absolut keimtote Weltuntergang.
Okay, in punkto Ordnung und Sauberkeit haben die hier eindeutig 'nen
Fimmel, aber das schaukeln wir auch noch, denk ich so. Und: es gibt
Schlimmeres.

Die drei Jungs, hier, sind also meine zukünftigen Zimmerkameraden.
Einer von ihnen gibt mir sofort die Hand zum Gruß, und der andere, da-
neben, überschlägt sich fast, so schnell schießt dessen Arm vor, in mei-
ne Richtung.
Der dritte im Bunde hat es nicht so eilig. Um ehrlich zu sein: er scheint

nie Eile zu haben. Er hockt gelangweilt auf seinem Bett und kaut an sei-

nen Fingernägeln. > Detlef!, < motzt Herr Rosini-
us. > Könntest ja wenigstens mal guten Tag sagen! <
> Ja, Tach auch, < grantelt der Angemotzte, sieht nur kurz auf und be-

kaut weiter intensiv seine dreckigen Fingernägel. Er zieht es vor, ab-

wartend zu schweigen.
Ich schau ihn mir näher an. Er hat nackenlanges, pechschwarzes Haar,

braune Augen, ist mindestens so groß wie ich und hat für sein Alter -

zwölf, dreizehn etwa - schon Muckis wie ein Rummelboxer. Mir fällt

auf, daß er total verschlossen ist - jetzt und wohl auch sonst immer.

Seine traurigen Augen huschen allerdings wachsam, gleichzeitig auch

misstrauisch hin und her.
Ich Ahnungsloser hatte jedenfalls keinen Schimmer, daß gerade er,

der mir hier den kühlsten Empfang bereitet, recht bald mein bester

Freund werden sollte.
Die anderen beiden - Peter und Klaus hießen sie - waren auf ihre Art

freundlich und nett - aber ebend scheissnett. Ich sollte schon bald he-

rausfinden, daß sie überall unbeliebt waren, weil sie Radfahrer sind.

Das sind Typen, erklärte mir Detlef einige Tage später, die sich lie-

bendgern bei den Erziehern einschmieren.
> Kratzer sind das. <
> Kratzer? Noch nie gehört. <
> Mann, bist du schwer von Kapee, < erklärte Detlef weiter.
> Kratzfüßer. Arschgeigen. Kapito? <
Hab ich kapiert. Mein bisschen Verstand flüsterte mir immerhin:
aufpassen, die zwei verpfeifen dich schon, wenn du nur dran
denkst, Scheiße zu baun. Peter, der eine Anschwärzer, war hell-
blond, klein, nicht dick, sondern eindeutig fett wie ein Hänge-
bauch-Eber. Er trug eine Brille mit Turboglas im Rahmen, das
eher einer Lupe glich. In der dicken Schnüffelnase bohrte er stän-
dig nach Schmierpopeln, die er auch noch fraß. Sein Gang war der
eines Eisbären - immer leicht den Kopf schaukelnd. Hat wohl auch
'ne Meise, der Dickwanst, dachte ich. Na, wer hat die hier nicht...
Nur: deshalb muß man ja nicht gleich die eigenen Popel fressen.
Klaus, der andere Radfahrer, war dürre wie eine Bohnenstange und
so lang, daß er spätestens nächstes Jahr aus der Dachrinne saufen
kann. Sein Kopf sieht aus, wie der eines Pferdes: hängender Unter-
kiefer, vorstehende Augen und spitze, übergroße Ohren. Im Grunde
ist der Typ eher wie eins von den älteren, vernachlässigten Gäulen,
kurz vor´m Schlachthof. Klaus ist bestimmt 1,90 Meter groß und
trotzdem nicht viel älter, als ich. Also: ein klapperlanges Riesen-
pferd.
Genug gelästert. Mit meinen Kopfbeulen und den dickgeschlage-
nen Lippen seh ich ja auch kein bisschen ungefährlicher aus, als die
beiden Schwarzfahrer. Und Beulen und Hörner gehn auch nicht von
heut auf morgen weg - schon garnicht, wenn sie fast zu Reserveköp-
fen mutiert sind.

Herr Rosinius lässt mir keine große Wahl: er weist mir das obere Bett
im Doppeldecker, direkt neben dem Fenster zu.
Dort liegen schon, fein säuberlich gebügelt, eine dicke Filzdecke und
frisch riechendes Bettzeug.
Der lange Klaus zeigte mir mit wichtigtuerischer Miene, wie ein
Bett nach Art des Hauses bezogen wird. Anschließend wirft er alles
wieder über den Haufen, damit auch ich in den Genuss komme, ein
Bett ordentlich nach Vorschrift des Hauses zu beziehn.
Es klappt schon ganz gut bei mir, aber irgendwie finde ich die ganze
Bettbezugbauerei doch ziemlich bescheuert. Also: zunächst muß
man das Laken so stramm um die Matratze legen, daß keine einzige
Falte mehr zu sehen ist. Dann wird der Bezug so um die Filzdecke
geschlungen, daß genau eine Breite von 32 blauen Karos dabei raus-
kommt. Die Bezüge sind hier allesamt blauweiß kariert. Man zählt
also bis 32 und schlägt beim 32igsten Karo die Bettdecke exakt so
ein, daß der restliche Teil unter den 32 Karos verschwindet - ohne
eine einzige Falte natürlich.
Totaler Schwachsinn. Aber irgendwo muß das ja auch Logik haben,
sag ich mir zum Trost.
> Junge, du hast noch genug Zeit, um das in den Griff zu kriegen, <
tröstet denn auch Herr Rosinius.
Er schickt die drei anderen Jungs rüber, zur Schulbaracke. Eher mür-
risch zockeln sie los.
Mir fällt fast noch ein Troststein vom Herzen: hier geht man also
auch nicht gern in die Schule...Prima.

Herr Rosinius führt mich zur Kleiderkammer, die im Kellergeschoss
ist. Dort darf ich meine abgewetzten, wie zerschossen aussehende
Lumpenhosen gegen nagelneue, braune Cordhosen eintauschen.
Auch meine Sandalen, die bestenfalls noch als Wurfgeräte taugen,
werden ersetzt durch ganz leichte, weiche Turnschuhe. Zu guter Letzt
gibt´s noch ein rotes Nylonhemd mit lauter weissen Punkten drauf
geschenkt - ein Hemd, das ich wegen seiner poppigen Aufmachung
schon bald zum Lieblingshemd kürte.
Eine alte, etwas kränklich wirkende Kleiderfrau schob mir aber noch
viel mehr Klamotten über den Ausgabetisch. Socken, Unterwäsche,
Nachthemd, Handtücher, Hausschlappen und Waschzeug. Ich staunte
nicht schlecht: so viele Klamotten-Reichtümer hatte ich noch nie be-
sessen!
Herr Rosinus stand neben mir und nickte zufrieden.
Ich bedankte mich artig bei der Kleider-Omi. Die schüttelte nur ge-
dankenverloren den müden Kopf und schloss, mit sich selbst redend,
die Kleiderkammer hinter uns ab. Langsam, mit schlurfenden Schrit-
ten, ging sie in die Nähstube, nach nebenan. Wir folgten ihr. In der
Nähstube saßen fünf alte Omis, die nur kurz aufsahen, als wir eintra-
ten. Dann rutschten die Brillen wieder an ihren Nasen herab. Hier
wurden Socken, Hosen, Hemden - einfach alles gestopft, was noch
irgendwie zu flicken war, ehe es als Putzlappen endete.
Die faselnde Kleideroma von vorhin gab mir mehrere gleiche Stoff-
nummern in die Hand und ließ uns dann einfach stehn.
Später, im Flur, erklärte Herr Rosinius, daß die Zahl in meiner Hand
ab jetzt meine Wäschenummer ist. Ich sah hinein. 95 stand da. Und
auf den anderen kleinen Stofffähnchen stand ebenfalls die 95. Meine
Identitäts-Nummer, sozusagen. > Die wird in Hemd-oder Hosenkra-
gen eingebügelt, Unterwäsche und Socken. Und dann kann dir keiner
mehr die Wäsche streitig machen, < meint er.
Na, wenn er meint, dann stimmt´s wohl auch.

Wir gingen die langen Flure zurück. Im Schlafraum angekommen,
zeigte mir der Erzieher, wie man sämtliche Sachen exakt im Schrank
einzuordnen hat.
Ich bemühte mich redlich, interessiert zu wirken, aber mein heimli-
ches Grinsen blieb Herrn Rosinius nicht verborgen. Er lächelte nach-
sichtig und zuckte die Schultern. > Ist ein bisschen verrückt, aber nicht
zu ändern. Irgendwer hat das mal eingeführt mit dem peniblen Kleider-
kram und an uns weitergegeben...Also...alles muß auf Zeitungsbreite
in dein Schrankfach eingestapelt werden. <
Er drückt mir eine alte Zeitung in die Hand, und dann versuche ich es
mit dem Einstapeln. Das alte Zeitungsblatt wird halbiert, jedes Klei-
dungsstück darumgeschlagen und perfekt übereinander ins Fach ge-
setzt.
> Siehst du, klappt doch schon ganz gut, < lobt Herr Rosinius nach ei-
ner Weile. > So, das war das. Und jetzt bring ich dich rüber, zur Schu-
le. <
Och nee, Schule ist doch Mist. Außerdem kommen da ungute Erinne-
rungen hoch...
Er legt fürsorglich seinen Arm um meine Schulter und schiebt mich
vor, ins Freie. Während wir gemächlich in Richtung Schulbaracke gin-
gen, dachte ich darüber nach, daß ich mich hier eigentlich schon ganz
wohl fühlte. Gut, die achten halt auf Sauberkeit, daß man öfter mal ins
Grübeln kommt, aber ansonsten gab es bislang nicht viel zu meckern.
Keine Schläge, wie bei Muttern, Kinder um mich herum, und einer von
denen hat sogar das Zeug dazu, mein bester Kumpel - nach Hink - zu
werden. Okay: zwei Arschgeigen, mit denen ich von jetzt an meinen
Schlafraum teilte, einen Erzieher, der nicht verkehrt war und eine tat-
terige Kleideroma, die nicht mal merkte, daß ich mich fröhlich bei ihr
bedankt hatte...Alles in allem: ein guter Anfang.

Rechterhand lag der Schulhof. Dicke Holzbänke standen unter kahlge-
wehten Kastanienbäumen, ringsum.
Wir kamen an die Tür der Schulbaracke. Wenig später klopfte es an
einer Klassenzimmertür. Jemand rief laut: herein..! Mein Herz sackte
in die nigelnagelneue Cordhose. Für mentale Lockerungsübungen war
aber leider keine Zeit mehr.
Herr Rosinius schob mich behutsam vor sich her. Und dann stand ich
mitten im Klassenraum. Zwanzig aufgerissene Augenpaare starrten
mich durchdringend an.
> Das ist Frank, euer neuer Mitschüler, < sagte Herr Rosinius. Der un-
terrichtende Lehrer, Herr Suppe (..so hieß der Lehrer wirklich) kam et-
was humpelnd auf mich zu, reichte mir die eine Hand, die fast so groß
wie eine Schippe war und führte mich zu einem Platz in der vorletzten
Reihe. Da saß ein Mädchen, das bereitwillig etwas zur Seite rückte.
Der Erzieher verabschiedete sich.
Der Lehrer namens Herr Suppe fuhr mit dem Unterricht fort. Er sprach
über das Mittelalter - einer Zeit, in der böse Raubritter arme Bauern
ausplünderten, deren Frauen schwängerten und ihre Widersacher im
Allgemeinen bei Gegenwehr ohne pardon einfach abmurksten.
Ich sah mich um im Klassenraum. Zwanzig Jungen und Mädchen ver-
folgten mehr oder weniger gelangweilt die Schilderungen ihres Leh-
rers. Herr Suppe kritzelte an der Tafel herum, um die gesellschaftlichen
Schichten von anno Dazumal bildlicher darzustellen. Ganz oben stand
der Kaiser, darunter der Landesfürst, dann kamen die Kaufleute und die
wohlhabenden Gelehrten, und ganz unten stand der einfache Kuhbauer,
von dem die anderen supergut lebten, wegen der Frohnabgaben, die sie
ihm reichlich abknöpften.
So ganz genau schien es Herr Suppe aber mit der Rangfolge auch nicht
zu nehmen. Während er aus blasser Erinnerung zitierte, sah ich ihn mir
etwas genauer an. Ich schätzte ihn auf sechzig muntere Jährchen - groß
und bullig - so 'n richtiger Bulle von Mann - garnicht so, wie man sich
einen schwächlichen Opa vorstellt. Sein humpelnder Gang kam von
einem Oberschenkel-Durchschuss im zweiten Weltkrieg, der nie wieder
richtig ausgeheilt war. Schlohweisse Haare, die stetz gestriegelt und mit
Fett beschmiert wurden, krönten sein kantiges Gesicht, mit der dicken,
ädrigen Knollennase drin. Seine lockere Art, mit uns Kindern umzugehn,
sollte auch dazu führen, daß Herr Suppe bald mein Lieblingslehrer wur-
de.

 

Ich bemerkte, daß sich einige Jungs und Mädchen in der Klasse immer
wieder nach mir umdrehten. Auch Detlef, Peter und Klaus, die Zimmer-
Mitbewohner, erspähe ich ziemlich schnell.
Ab und zu flogen Zettel dicht an meiner Nase vorbei und landeten auf
dem Tisch der Sitz-Nachbarin. Sie scheint begehrt zu sein. Mein Typ ist
ist sie nicht so, schon wegen der leicht schielenden Augen. Aber sie hat
was, wovon andere Mädchen in der Klasse nur träumen: riesige Brüste.
Richtig gebirgig!
Später erfahre ich ihren Namen. Kerstin, heißt sie. Ihre Art, einem gera-
dewegs (...na ja, eher über Kreuz) in die Augen zu sehn, verwirrt mich
etwas. Die dezent schielenden Äuglein mal beiseite: sie wirkt trotzdem
auf unbestimmte Art anziehend, fand ich, und ist zudem noch ´ne ganz
helle Kerze - nämlich Klassenbeste. Weil ich ihr mein schönstes Lächeln
schenkte und auch sonst niemals über die Riesenmöpse (sie hat extreme
Komplexe deswegen) und ihren Silberblick lästern werde, wie viele an-
dere, darf ich zukünftig auch so manches Mal bei ihr abschreiben, wenn
eine Klassenarbeit ansteht. Logisch, daß ich mich über ihr Entgegenkom-
men sehr freute, denn Schule war ja zuletzt nicht gerade mein Stecken-
pferd. Also wird´s Zeit, daran was zu ändern, wenn auch erstmal mit
leichter Schummelei. Alles weitere findet sich dann schon. Mit Kerstin
an der Seite brennt jedenfalls erstmal nicht viel an.

Es klingelte zur Pause.
Alles strömte hinaus auf den Schulhof. Jungs und Mädchen schäkerten,
warfen sich mal scheue, oder auch direkte Blicke zu. Es wurde gelacht,
gelästert, geschrien. Irgendwie gut und fast schon vertraut, dachte ich.
Ich setzte mich zu Detlef auf eine Bank, wo er allein vor sich hindöste.
Wir quatschten ein bisschen - dann noch ein bisschen mehr, und er, der
Schweigsame, taute langsam auf. Vielleicht vertraute er mir auch ziem-
lich schnell. Nur mit dem Reden - das war nicht so seine Sache, aber es
machte sich auch allmählich. Sein Schweigen verflog schließlich ganz
und er erzählte von sich - daß er keine Eltern hätte, jedenfalls haben sie
ihm das so erzählt. Er war schon immer in Heimen, mal hier, mal da
und dann wieder ganz woanders. Hin - und herverschoben, sagte er lei-
ser. Aber hier gehts mir schon nicht schlecht, sagte er. > Hab' nur
Schwierigkeiten Freunde zu finden, weil ich vielleicht zu ruhig bin,
und nicht soviel rumkaspere, wie die ander'n. <
Er schwieg betrübt und senkte den Kopf.
> Hey, pass auf...!, < ermunterte ich ihn. > Wir finden schon noch Kum-
pels für dich. Und ich bin dein erster! Gut, oder sehr gut?! <
Er strahle über alle Backen. Irgendwie hielt er mich wohl für bekloppt.
Und das sagte er mir auch. > Hast ganz schön ´ne Schraube locker, Al-
ter. <
> Alter gefällt mir, < erwiderte ich lachend.
Wir klatschten die Hände aneinander und besiegelten unsere Freund-
schaft. So einfach ist das manchmal.

Es klingelte wieder. Ende der Pause. Wir bahnten uns einen Weg
durch die drängelnde Menge. Laut Stundenplan war Stabü (Staatsbür-
gerkunde) an der Reihe. Aber das war sowas von langweilig, daß wir,
oder besser: die anderen in die Trickkiste greifen mußten. Weil Herr
Suppe ein guter deutscher Soldat im Krieg war, packten sie ihn an
genau der Stelle. Jemand fragte mit Unschuldsmiene : Wie war das
nochmal, damals, als sie in Gefangenschaft kamen?
Und schon war der geplante Einschlafstoff total abgemeldet... Herr
Suppe kam auf sein kaputtes, hinkendes Bein zu sprechen, auf den
miesen Frontfraß und die auf all die eingebildeten Arschlöcher von
Vorgesetzten. Dann glättete sich sein rotzorniges Gesicht und er
schnalzte mit der Zunge. > Aber die Schwestern im Feldlazarett, die
waren vielleicht eine Augenweide...!  Sehr lieb waren die, immer zu
Späßen aufgelegt...Haben aus Scheiße noch Pudding gezaubert, und
keine eine Spritze hab ich gemerkt, die sie mir hierhin jagten!... <
Schief lachend bekopfte er sein Hinterteil. Seine Augen leuchteten
wie hellfunkelnde Sterne. Er erzählte und erzählte, und während er
munter draufloserzählte, lief ihm die freiweg die Unterrichts-Zeit da-
von.
Als es zur Pause klingelte, war Herr Suppe richtiggehend in Fahrt ge-
kommen, und wollte weiter drauflos schwatzen. Aber Pause ist Pau-
se. Wir springen wir auf und stürmen den Schulhof.

Später waren noch Mathe, Deutsch und zuletzt Sportunterricht an der
Reihe. In Sport wurde Fußball gebolzt. Wir trabten also im Laufschritt
über eine kleine Holzbrücke, gleich hinter ´m Schloß, vorbei an einem
kleinen Wäldchen und kamen schon ziemlich geschlaucht zum Sport-
platz.
Den Mädchen wurde Medizinballwerfen verordnet. Wir Jungs durften
uns mit der Fußlederpille austoben. Die großen Holztore zu beiden Sei-
ten des Platzes hatten leider keine Netze. Deshalb wurde das Gebolze
andauernd unterbrochen, weil wir nach dem Ball fahndeten, der irgend-
wo im brachliegenden Acker, dahinter, mit uns Verstecken spielte. Also:
suchen. Und finden. Dann ging es munter weiter. Es wurde gefoult und
getreten. Jemand flog nach vorn über - der nächste auf den Allerwertes-
ten. Der dicke Peter spielte den Schiedsrichter, obwohl er keine blasse
Ahnung von irgendwelchen Regeln hatte. Er pfiff einfach auf Verdacht
und wartete ab, ob sich jemand auf ihn stürzte, weil er vielleicht Mist
gepfiffen hatte. Die Tore hat er immer richtig gepfiffen. Okay, den An-
stoß in der Mitte auch, aber ansonsten pfiff er ganz schön viel Mist.
Klaus, das lange Elend und Zimmermitbewohner, lief auf seinen lan-
gen Stelzen wie eine Giraffe hinterm Ball her und traf nicht ein einzi-
ges Mal den Ball. Ja, und ich, der auch noch nicht viel Ahnung vom
Fußball hatte, flog ein paarmal über den Ball und mindestens genau-
so oft über die eigenen Beine und über hinterhältig ausgestreckte
Sprinterbeine anderer. Scheissspiel. Aber irgendwie auch lustig....
Bis ich es doch leid war, die eigenen Knochen ganz zu ramponieren.
Ich legte mich etwas abseits ins hohe Gras, sah gut getarnt hinter
hohem Gras den Mädchen beim Fangeballspiel zu. Die großen Brüs-
te von Kerstin, der Schulnachbarin, flogen nur so auf und ab, daß
ich fürchtete, gleich segeln sie losgeeist weg, in Richtung Himmel,
oder knallen hart zu Boden - und Kerstin hinterher. Sie sprang aber
auch sowas von wild umher - da muss einem dummen Zwölfjähri-
gen, wie mir, ja Angst, Bange - und hitzig werden. Mein Hals wurde
jedenfalls lang und länger.
Frau Klug, die zierliche Sportlehrerin, wirkte dagegen wie eine dürre
Bergziege, kurz vor´m Hungertod...Nur mal vergleichend, aber nicht
böse gemeint, denn die Sportlehrerin ist ansonsten nett, wie sich bald
herausstellen sollte.
Ich genoss also die gebirgige Aussicht noch ein gutes Weilchen, ehe
die Sportstunde zu Ende war. Im Laufschritt ging es zurück in die Um-
kleideräume. Duschen. Jungs und Mädchen getrennt natürlich. Aber
irgendwie schafften wir es, gierige Blicke in den Duschraum der Mäd-
chen, nebenan, zu werfen. Das machten wir so: Dusche anstellen,
Wasser marsch - nur stehn wir nicht drunter, sondern schleichen vor-
sichtig nach nebenan, um bei kräftig rauschendem Wasser die nacki-
gen Mädchen in Augenschein zu nehmen... Tür auf. Nur einen Spalt
breit. Reicht völlig, um Nase und weitaufgerissene Augen reinzustec-
ken... Erst ist nur Wassernebel erkennbar. Aber dann...Lauter nackte
Mädchen, die sich gerade gründlich einseifen...! Holladihoooh...Da
gehn gleich zehn Sonnen gleichzeitig auf und im Schritt regt sich
auch einiges...Bis...Ja, bis der Erste von uns einen kräftigen Tritt in
den Arsch bekam.
Frau Klug hatte sich angeschlichen und dann gab es auch schon einen
gewaltigen Anschiss.
> Raus hier, aber ganz schnell! <
Pudelnackt und uns fast keiner Schuld bewusst, standen wir da...Eini-
ge - auch ich - mit wippendem Fast - oder Ganzständer.
> Das hat ein Nachspiel!, < motzte die Sportlehrerin lautstark.

Ist, wie schon gesagt, ´ne Nette, unsere Sportlehrerin. Deshalb hatte
es auch kein Nachspiel.


Eine Stunde später standen wir sauber rausgeputzt im Freien. Herr
Kundiger, der nun die Betreuung übernahm, holte uns vor der Schule
ab und führte uns zum Mittagessen in den großen Speisesaal, drüben,
im Schloß. Der alte Herr war nicht mehr der Rüstigste. Ständig mußte
er sich abmühen, mit uns Schritt zu halten. Er war ein Mann um die
Siebzig. Hatte ein blasses, verlebtes Gesicht, einen gebeugten Gang
und er rauchte Pfeife. Seine heimliche Leidenschaft aber war der
Fusel. Genauer: Schnaps. Noch genauer: Likör. Bohnekamp, ein Ge-
söff, das angeblich gut für Magen und Laune sein soll. Also: Letzteres
stimmte schon mal: gute Laune hat Herr Kundiger fast immer. Der Ge-
ruch, der ihn ständig umwehte, kam aber einer Brauerei sehr nahe.
Macht ja nichts: lieber ständig Brauereiwind um die Nase, als den,
der schlechte Laune hat.
Lange Rede, kurzer Sinn... Herr Kundiger war Erzieher Nummero
zwei. Ein guter Kerl mit sonnigheiterem Gemüt, den hier offenbar
alle mochten.

Der Essensaal war so rappelvoll, daß wir einstweilen warten muß-
ten, bis andere ihre Plätze räumten, um ihr Geschirr zum Spülen an
den Schalter zu bringen. > Verhungern braucht hier keiner, < scherz-
te Herr Kundiger. > Dauert nur länger. <
Nach einer Stunde hatten wir uns die Bäuche mit Milchreis und Pflau-
mensoße so vollgeschlagen, daß wir Mühe hatten, prustend die Plätze
für nachströmende Kinder zu räumen.
Es ging zurück in die Unterkünfte, wo nun zweistündige Mittagsruhe
abgehalten wurde.
Mittagsruhe?
Jawoll, das soll Heranwachsenden auch nicht besonders schaden - be-
sonders dann nicht, wenn sie vor lauter nackter Mädchen im Hinter-
kopf rettungslos überdreht sind.

Gegen drei Uhr versammelten wir uns im Fernsehraum, um die aufge-
gebenen Schulaufgaben von Herrn Kundiger durchsehn und absegnen
zu lassen. Waren sie zur Zufriedenheit des alten Herrn erledigt worden,
(...waren sie fast immer, wegen seiner alkoholbedingten Sehschwäche)
durfte man bis 19 Uhr im Heimgelände rumtoben, Fußballspielen, fern-
sehn, oder einfach nur auf den Bänken im Umkreis rumsitzen und Un-
sinn aushecken. Auch die Heimmädchen gesellten sich bald hinzu. Herr
Kundiger hatte seine liebe Mühe, die Schäfchen um sieben Uhr wieder
einzusammeln. Er ließ die Zügel ebend auch zur richtigen Zeit öfter
mal schleifen, obwohl erste Liebeleien hier eigentlich tabu sind, wie ich
später erfuhr. Aber Verbote sind ja bekanntlich da, um sie sich zu erlau-
ben...Jedenfalls kam der wackere, alte Erzieher immer irgendwie gerade
dahin, wo sich knutschende Pärchen verschanzten - in Büschen, im
Schulhof, in Klassenräumen, hinter Klapptafeln...
Und was tat der Gute?
Er schüttelte nur sein müdes Haupt und brabbelte: > Nee, die Kinder
heutzutage. Noch grün hinter den Ohren, aber schon wie wild den Mä-
dels hinterher. <
Wo er Recht hatte, da hat er Recht.

Gegen 21 Uhr wurden wir ins Bett geschickt. Dort plapperten wir noch
lange über die Ereignisse des vergangenen Tages, über ´scharfe Mädchen´
im Duschraum und den logischen Anschiss der Sportlehrerin.

Das waren sie also: der erste Tag und die erste Nacht im Kinderheim.
Detlef, der unter mir im Doppelstockbett liegt, konnte nicht einschlafen.
Ich auch nicht. Also haben wir uns noch ein bisschen über dies und das
müde gequatscht.
Peter und Klaus schnarchten schon selig. Der lange Klaus gab Geräusche
von sich, als würde er Wallnüsse knacken und der dicke Peter schnarchte,
schmatzte und furzte gleichzeitig.
Irgendwann, spät in der Nacht, fielen auch Detlef die Augen zu. Nur ich
lag noch wach, von ersten, neuen Eindrücken leicht aufgedreht. Ich hob
den Kopf an, sah zum Fenster raus, in dunkle Nacht. Stille, da draußen,
und überall. Tröstliche Stille. Nur leise Schritte des Nachtwächters vom
Flur her waren zu hören. Auch das Atmen, Brabbeln, Geschmatze und
Schnarchen schlafender Zimmermitbewohner. Ein gutes Gefühl, das sich
da in mir ganz weit aufmachte.
Als der Nachtwächter irgendwann später mit der Taschenlampe ins Zim-
mer leuchtete, war ich fast eingeschlafen. Der grelle Lichtstrahl streifte
erst die anderen drei - dann mich.
Er brummelte zufrieden, schloss die Tür, zog leise weiter.
Ob er auch das Lächeln in meinem Gesicht gesehn hat...?

 

 

3.
Aus Tagen wurden Wochen. Aus Wochen Monate.
Das Leben im Kinderheim wurde angenehme Routine. Schrammen und
Beulen auf meinem Kopf verheilten. Sogar die Erinnerungen daran wur-
den blass und blasser.
Ein paarmal bekam ich Post von meinen Geschwistern in Wismar. Ge-

antwortet hab ich nie. Doch, einmal. Ganze vier Worte:

Alles super duper.
Adios!

Danach war endlich Funkstille. Drauf gepfiffen! Bin jetzt hier - und hier
geht´s mir deutlich besser: keine Kloppe, zu Essen gibt es genug, Schule
besuchen macht inzwischen auch mehr Spaß, als Schule schwänzen. Die
Schulnoten sind nicht toll, aber auch nicht schlecht. Guter Durchschnitt,
könnte man sagen. Bin (fast) ein Musterknabe geworden.


 

4.
Was noch zu erzählen bliebe....Wir, die Krassower Gören, sind inzwi-
schen älter und alt geworden. Viele der hier mit Echtnamen genannten,
gutwilligen Lehrer und Erzieher sind inzwischen verstorben. Ihnen und
allen schwierigen Kindern, die - aus welchen Gründen auch immer -
nach Krassow kamen, dort Geborgenheit und nach der Zeit ihren Weg
ins Leben zurückfanden, ist dieser unvollständige Tatsachen-Ausriss ge-
widmet.
All den Ersatzmüttern - und Vätern einen besonderen Dank, weil sie sich
immer behutsam und nachsichtig für uns stark machten - damit auch wir

stark wurden.

 

 

(c) Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

 Bild: pinterest

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